»Niemand musste schießen«

Erwähnung von physischer Gewalt und Mord

Wie es sich anfühlt, die eigene Familie auf braune Flecken zu untersuchen? Im Januar berichteten Katrin Raabe und Roland Laich darüber in der jährlich stattfindenden Reihe zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Zum Austausch mit den beiden Gästen lud die Freie Altenarbeit Göttingen.

Von Stefan Walfort

Bild: © Freie Altenarbeit Göttingen e.V.

»Die meisten wünschen sich natürlich, dass sie nichts finden« – damit bringt Katrin Raabe das Dilemma auf den Punkt, in dem Angehörige von NS-Tätern und -Täterinnen stecken bzw. diejenigen, die vermuten, es zu sein. Hinter ihr ist auf einer Leinwand ein Familienfoto zu sehen. In der hinteren Reihe, genau mittig, steht Friedrich Schmidt oder »Fritz«, wie ihn die Familie zu nennen pflegte. »Dein Großonkel Fritz war ja bei der Polizei«, habe es immer nur nebulös geheißen. Tiefer bohren wollte niemand so recht. Als ihr Vater konkretisierte, dass »Fritz« bei der Gestapo gewesen sei, habe Raabe das als »Schockmoment« erlebt. Damals sei sie schon »überzeugte Antifaschistin« gewesen, und aus einem ersten Impuls heraus habe sie das besagte Foto, das bis dato bei ihr zuhause hing, sofort von der Wand genommen.

Freie Altenarbeit

Der Freie Altenarbeit Göttingen e.V. bietet regelmäßig Veranstaltungen zum Wohnen im Alter, biografischen Schreiben und mehr an. Erzählcafés haben ihren festen Platz im Programm. Sie zeichnet ein biografischer Schwerpunkt aus: Gäste, oft Zeitzeug*innen oder deren Angehörige, berichten von früher. Auf Kurzvorträge folgt in der Regel ein enger, von Vereinsmitarbeiter*innen (diesmal Laura Marahrens/siehe Titelbild, Mitte) moderierter Austausch mit dem Publikum.  

Alsbald habe sie »erstmal plan- und ziellos und mit miserablem Französisch« bei Lothringen nach Hinweisen auf Taten des Großonkels zu suchen begonnen. Das gestaltete sich »schwierig«, zumal sie keine Einsicht in Archivmaterial erwirken konnte. Eine systematischere Suche nebst Anfrage beim Bundesarchiv war der Startschuss zu einem allerhand Zeit und Kosten verschlingenden Erinnerungsprojekt, das letzlich in die Gründung des Vereins NS-Familien-Geschichte mündete. Leider fiel Raabe dann doch eine Fülle belastenden Materials in die Finger. Frankreich hatte sich als »falsche Spur« erwiesen. Des Großonkels Fährte war von nun an in Luxemburg aufzunehmen. Dort nämlich war er zuständig gewesen für die Verfolgung des luxemburgischen Widerstands. Er dirigierte Erschießungskommandos und organisierte Deportationen.

Insgesamt lasse sich seine persönliche Verantwortung für Erschießungen mithilfe von sieben Aktenordnern belegen – »das alleine ist ein wahnsinniger Bestand, den wir einsehen konnten«, und er decke nicht einmal ab, was der Großonkel vor seinem Aufstieg auf der Karriereleiter als vergleichsweise kleiner Gestapobeamter verbrochen hat. Später war er als Mitglied eines Sonderkommandos im KZ Hinzert jemand, der laut Raabe »ganz fürchterliche Dinge gemacht« habe – noch grausamere also als die genannten. Weitere Details nennt Raabe nicht. Schließlich geht es klar erkennbar nicht darum, durch eine Überbietungslogik des Grausigen möglichst nachhaltig zu schockieren. Was sollte das auch nützen, außer Schlussstrichschreier*innen Vorschub zu leisten?

Ein eingestelltes Verfahren

Unmittelbar nach Raabes Kurzvortrag ergreift das Publikum die Gelegenheit, sie mit Fragen zu löchern. Das Format des Erzählcafés (siehe Infobox) will es so. Vor allem dem Verbleib des Täters nach 1945 gilt das Interesse der etwa dreißig Anwesenden. Wurde er zur Rechenschaft gezogen? Wenn ja, inwieweit? Tatsächlich habe man ihn in einem Internierungslager festgesetzt, so Raabe, doch sei es ihm gelungen zu flüchten. Mit falscher Identität im Gepäck, dem Namen des Bruders(!), sei er abgetaucht und Zielfahndern, die auf ihn angesetzt waren, durch die Maschen geschlüpft. Er habe sogar den Schneid gehabt, sich 1954 unter richtigem Namen in Göttingen niederzulassen, wo er sich hochoffiziell für den Polizeidienst bewarb. Unter den Zuschauer*innen breitet sich sichtlich ein mulmiges Gefühl aus, bei manchen Entsetzen – kein Wunder, denn unmittelbar zuvor hatte man erfahren, dass es sich um einen eigentlich in Abwesenheit zum Tod Verurteilten handelte.

Ehemalige Gestapokollegen attestierten ihm, stets »charakterlich einwandfrei« gehandelt zu haben; daher fruchtete auch ein neuerlich aufgerolltes Verfahren nicht. Eine »couragierte Staatsanwaltschaft« hatte es in Gang gesetzt, doch sang- und klanglos musste es eingestellt werden. Vielen im Publikum steht – nachvollziehbar – Unverständnis ins Gesicht geschrieben. Einige haken weiter nach, andere bekunden ihre Hochachtung davor, wie schonungslos Raabe regelmäßig, nicht nur an diesem Nachmittag, andere an ihrer Detektivarbeit teilhaben lässt. Das muss schmerzlich sein, trotz allem Anspruch darauf, Wissen sachlich und fundiert weiterzutragen. Letzteres, daran kann gar kein Zweifel sein, gelingt Raabe ausgezeichnet. Eigentlich ist sie studierte Pädagogin und beruflich als Webdesignerin und Fotografin aktiv. Wie tief sie nebenbei in die Forschung zur NS-Geschichte eingestiegen sein muss – Hut ab!

NS-Familien-Geschichte

Der Verein NS-Familien-Geschichte gründete sich, nachdem Katrin Raabe und Roland Laich 2012 begannen, zu NS-Tätern in der eigenen Familie zu recherchieren. Der Verein organisiert Vortragsreihen für Schüler*innen und Erwachsene sowie die Wanderausstellung Gestapo-Terror in Luxemburg.

Als wäre sie Oral History-Expertin, weiß sie ganz genau, wie interessengeleitet sich Erinnern vollzieht. Niemand macht ihr da ein X für ein U vor, schon gar nicht, wer ihr Entlastungstopoi à la ›Wir wären sonst an die Wand gestellt worden‹ (in der Geschichtswissenschaft als Befehlsnotstandsthese bekannt und umfangreich widerlegt) anzudrehen versucht.

Wer zur Gestapo geht, will Karriere machen. Niemand wurde dazu gezwungen. Niemand musste schießen,

so stellt Raabe klar. Man kann nur hoffen, dass sie wider eines sich ausbreitenden Geschichtsrevisionismus noch viele offene Ohren erreicht.

Das Bedürfnis nach Verdrängung

Dasselbe gilt für Roland Laich, selbstständiger Programmierer und – wie Raabe – Webdesigner. Nebenbei tätig in der Erwachsenenbildung treibt ihn wie sie ein dezidiert antifaschistisches Selbstverständnis an, in den (Un-)Tiefen der eigenen Familienbiografie zu forschen. Ein Überfall von Neonazis auf ein Kulturfest 1985 in Friedrichshafen habe ihn geprägt. Seitdem engagiere er sich in Antifa-Zusammenhängen. Ähnlich wie Raabe kann er sich an Geschichten erinnern, die Verwandte ihm als Kind erzählten und die in ihrer Vagheit von einem ausgeprägten Bedürfnis nach Verdrängung zeugten: In der Nachbarschaft habe es »den Juden« gegeben. Irgendetwas sei dem zugestoßen. So genau habe aber niemand wissen wollen, was und unter welchen Umständen.

Laich habe zugleich unter einem sehr dominanten Vater gelitten; »sehr jähzornig« sei der gewesen. Nach dessen Tod sei Laich auf einen Nachlass von Plastiksoldaten und -panzern mit Hakenkreuzfahnen sowie in Sütterlin verfassten Briefen gestoßen. Sie und anschließende Reisen nach Frankreich sowie dortige Gespräche mit Angehörigen von Opfern gaben Aufschluss über die Zeit, in der der Halbbruder des Vaters, ein »großes Vorbild« für ihn, als Besatzungssoldat der Wehrmacht in Frankreich gewütet und Kriegsverbrechen begangen habe – ein Beispiel dafür, was vom Mythos der vermeintlich ›sauberen Wehrmacht‹ zu halten ist. Bis das Hamburger Institut für Sozialforschung 1995 gegen erbitterte Widerstände mit der Wehrmachtsausstellung diesen Mythos zertrümmerte, erfreute er sich, von den Tätern selbst im kollektiven Gedächtnis verankert, einiger Beliebtheit.

Erst seitdem bröckelt die Deutungshoheit der nach 1945 recht reibungslos in die Post-Holocaust-Gesellschaft reintegrierten Funktionseliten. Dass jedoch Alexander Gauland 2017 beim berüchtigten Kyffhäusertreffen unter frenetischem Applaus seiner Anhänger*innen dazu aufrufen konnte, »stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«, führt vor, wie nötig es ist, konstant dagegenzuhalten. Raabes und Laichs Erzählungen eignen sich dafür besonders, schaffen sie doch einen persönlicheren Zugang zum Thema als das jährlich zu Gedenktagen oder nach jedem antisemitischen Anschlag mit Betroffenheitsmine heruntergespulte »Nie wieder!« Für eine zunehmend wichtiger werdende Frustprävention kann man sich von Raabes und Laichs Engagement eine gehörige Scheibe abschneiden.

Alles gehört auf den Prüfstand

In Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur konstatiert Aleida Assmann eine »Zeit des Umbruchs und der Krise«. Schlussstrichforderungen würden nicht nur von Rechtsgerichteten artikuliert, sondern aufgrund ganz unterschiedlicher Prämissen seitens höchst diverser Milieus. Alle eint der Glaube, dass Wissen über die Shoah Allgemeingut sei, und damit einhergehend eine Logik à la »[w]as man weiß und was man internalisiert hat, braucht man nicht mehr zu erinnern«. Gegenwartsinteressen verwickeln somit eine »erfolgreiche Institutionalisierung« des Gedenkens in ein Spannungsverhältnis. Aus Letzterer resultierende Formen ritualisierten Gedenkens erzeugen zusätzlich Misstrauen. Als Gegenbewegung identifiziert Assmann einen »Kult der Authentizität«, wie er unter anderem im Fernsehen sich Bahn breche. Assmann nennt als Beispiel den ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter, eine Schmonzette, die aus guten Gründen nach ihrer Ausstrahlung im März 2013 viel Missmut auf sich zog, da sie mehr verklärt als zu erklären.

Raabe und Laich haben mit ihren Geschichten einen Weg gefunden, den von Historiker*innen zu Recht beargwöhnten Authentizitätsbegriff zu bedienen und zugleich zu problematisieren. Alles gehört ständig neu auf den Prüfstand, lautet die unausgeprochene Maxime, von der sie sich leiten lassen (»da wird 2019 noch Nazipropaganda nachgeplappert, von Briten, die wegen Versailles und den Reparationsforderungen am Zweiten Weltkrieg schuld sind«, so empört sich Laich über die Naivität vieler Unbedarfter. Wer möchte ihm da widersprechen?). Ein biografischer Schwerpunkt, wie er die Erzählcafés des Freie Altenarbeit e.V. kennzeichnet, ist in diesem Sinn nicht gleichzusetzen mit einem blinden Biografismus, der, mit Bourdieus Die biographische Illusion gesprochen, dem sich selbst zum »Ideologe[n] [d]es eigenen Lebens« degradierenden biografischen Subjekt auf den Leim geht. Die Organisator*innen der Reihe zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus haben mit der Aufnahme des Erzählcafés in ihr Programm eine hervorragende Wahl getroffen.

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