Die Inszenierung von Pirsch im Deutschen Theater thematisiert Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Verletztheit angesichts verzerrter Rechtsstrukturen, frei von Schutz und Anspruchsgrundlage. Eine intensive Inszenierung, die mehr Fragen offen lässt, als sie beantwortet.
Von Robin Alexander Schmidt
Bilder: Lenja Kempf
Ivana Sokolas Stück Pirsch,aufgeführt im Göttinger DT unter der Regie von Christina Gegenbauer, setzt einige Widerhaken. Es wird rabiat. Eingesogen auf fiebriger Spurensuche finden sich die Zuschauer:innen sogleich mitten im undurchsichtigen Geschehen wieder. Ein Verwirrspiel lädt zu Nachforschungen ein, wobei die Wandlung der Protagonistin Marinka vom herabgewürdigten Opfer zur erbarmungslosen Täterin Stück für Stück nachvollziehbar wird.
Fünfzehn lange Jahre ist es her, aber die Spuren wirken taufrisch. Zumindest im lautstarken Kommentar der Gefühle Marinkas (Mirjam Rast), die auf Gehör und Ausgleich pocht für ihre Version der zurückliegenden Verbrechen. Da ist das FEST,Schauplatz des Stückes, vermeintlich ein sozialer Anknüpfungsort, spaßbetont, beliebt und gut besucht. Genau dort ist Marinka der KUSS – ein unscharfer Euphemismus für einen sexuellen Übergriff – ›geschehen‹. Alles deutet auf einen Übergriff hin, die Themen animalische Gewalt und Sittenlosigkeit begleiten die Aufführung von Anfang an.
Im Stütz-Korsett der Institutionen?
Aufgerieben in einer sozialen Ungleichverteilung, sucht die Protagonistin die Überkompensation und verliert sich schließlich darin. Sie straft, rächt und vergilt. Das Unverständnis der Figuren, denen sie sich zunächst anvertrauen möchte, übertönt ihre Hilfeschreie sowie deren hintergründige Not.
Beide Stützen der Gesellschaft, hier der Bruder Jan (Lukas Beeler) und Polizistin Lene (Judith Strößenreuter), versäumen ihre Schutzfunktion ganz und gar, sie fangen nicht auf, sondern ein, ohne Aussprache. Die Beweislage ist diffus. Marinka findet keine Worte gegenüber ihrer Erinnerung, die für die Figuren nachvollziehbar genug wären, um Recht walten zu lassen. Sie fordern kristallklare Begriffe, leisten aber keine Hilfe, um diese gemeinsam zu finden.
Mirjam Rast spielt so manches bedürftig-suchende Wesensmerkmal in Marinka hinein. Diese dreht sich beispielsweise in einer Episode bis zum Umfallen schwindlig und findet sich – aller Entwirrungsversuche zum Trotz – erneut verstrickt, nach Halt suchend, aber oft verheddert, selbstverwickelt in der lianengleich-grünen Requisite.
Der Täterschaft auf der Spur…
Wobei die Figuren sich regelmäßig in einen verbalen Schlagabtausch verkeilen und mit lauter Stimme ihrer Wut ordentlich Luft machen. All dies übertönt nicht die Stille im Inneren. Auf Krakeel und Hysterie folgt abwechselnd bittere Ruhe und Fassungslosigkeit. Was seine Wirkung sicher trifft, einen starken Kontrast zu malen zwischen Realitätssetzung und dem Schwebezustand eines Was-Wäre-Wenn? Wenn es möglich wäre, zueinander durchzudringen?
Die Theatralik nach außen überspielt derweil nicht den inneren Bedürfniskatalog. Besonders beim lauten Sprechen werden die Figuren nahbar, denn sie vermitteln Hilflosigkeit auf einer Ebene, die der soziale Kontext schwer her- oder wiedergibt.
Unbändige Wogen?
Gelungen ist insbesondere die Körpersprache der Schauspieler:innen, die ihr Stilistik-Repertoire mitfühlbar zum Einsatz wenden. Marinka wirkt zu Beginn wie ein verschrecktes Reh, das bei der Straßenüberquerung vom Lichtkegel eines Autos festgesetzt wird; alles strahlt hinein, aber nichts kommt nach außen. Später, in der bissig-aggressiven Körperhaltung, mit den hochgezogenen Schultern, den klauengeformten Händen und dem in die Tiefe bohrenden Blick, ist dieses Merkmal, die Unschuld, kaum wiederzuerkennen. Indessen etwa Jan (Lukas Beeler), verwandt, nahestehend und eine Ansprechperson, sich später selbst seiner eigenen Vergangenheitswelt stellen muss. Die rätselhafte Verquickung von Täterschaft und Opferschaft, nur in Rückkehr, setzt emotional und affektvoll das Kontrastbild zur Wandlung Marinkas.
Plötzlich lassen die Figuren martialisch lange Holzstreben aufs Parkett krachen. Ebenjenen Teil der dauerpräsenten Requisite, an dem die farbigen Stoff-Streifen wie Triebe zur Bühnendecke aufwachsen. Percussions, deren Einsatz die Szenen- und Gedankenwechsel begleiten. Sie binden die andernfalls übersichtliche Kulisse immer an das Stück zurück, sie führen zurück auf den Weg und rücken den Fokus noch stärker auf die Figuren, die mit ihrer persönlichen Zwickmühle näher zu den Zuschauenden aufschließen. Passend erinnert die Bühne an ein Suchfeld, das alle Handlungsträger:innen mit sich selbst, das heißt nach sich selbst, auf Spießrutenlauf gehen lässt, entweder auf offener Fläche oder im Dickicht verborgen. Opfer und Täter wirken so verwechselbar nahe beieinander.
Damit sind jene Szenenübergänge wie ein Ausrufezeichen gestaltet und verleihen dem Gesprochenen (sowie dem dabei Unausgesprochenen) Nachdruck. Wenn die Kreise um das thematische Herzstück von Pirsch haifischartig immer enger gezogen werden, zieht auch die Schlinge um den Hals der Handlungsträger:innen sich weiter zu.
Im Göttinger DT sind die Hunde los
Ebenjene erlebte Ohnmacht der Opferdynamik verkehrt sich zwar in Täterschaft gegen alles und jeden, doch immer beginnend am eigenen Selbst. Die Hunderotte (Florian Donath, Moritz Schulze, Christoph Türkay) legt von Anfang an ein Vokabular an den Tag und die Nacht, das einzig im Konsumieren und Agitieren einen Wert begreift. Wo können als nächstes die ›Zähne hineingeschlagen werden‹?
Das instinktreduzierte Nachstellen des Trios bleibt aufgrund seiner Rohheit und Bestialität im Stück unangefochten, konkurrenzlos. Jagdlich-grün kostümiert, den Kopf unter der Kapuze versteckend. Hinter einem Großteil der Inszenierung stechen ihre Blicke hervor. Ein nichts beginnender Blick, blankgefegt wie die weite Wüste. Immer in Lauerstellung, immer zum Ansprung bereit und nie wirklich weit entfernt, rufen sie (allein aufgrund ihrer passiv-präsenzhaften Beteiligung) den themenmäßigen Unterbau zurück ins Gedächtnis.
Krater von Derweze – das Tor zur Hölle
Rahmengebend für die Geschehnisse des Stückes ist die oft erwähnte Wüste von Karakum in Turkmenistan, ein seit vielen Jahrzehnten Methan-Gas aufzehrendes, glühendes Kratergewölbe: Von den Einwohner:innen auch das Tor zur Hölle genannt – denn es verglimmt nicht. Eine solche Regenschattenwüste bleibt unberührt von den kühlend-feuchten Luftströmungen der Ozeane. Hohe Gebirgsketten türmen sich auf und bilden eine Wolkenbarriere. Das lebensspendende Wasser findet kein Durchkommen.
Ein ungastliches, ödes Land, lebensfeindlich für die meisten Lebensträger, auf Dauer unausstehlich und somit ganz ähnlich in ihren Relevanzmarkierungen zum FEST, an deren unergründeter oder unerhörter Erinnerung die Figuren innerlich verdursten und verenden: in Ermangelung an Mitsprache bzw. Mitteilungsmöglichkeit.
»Gewalt zerbricht an sich selbst«
Analog bringt der offene Schluss ein Verweisfeld ein, das sich stetig aus sich selbst hervorbringt. Mithin ist das ausufernde Maß an Gnadenlosigkeit der Gradmesser für die emotionale Zerrüttung der Figuren. Wenn Marinka mit tränenverschmiertem Gesicht die zuvor zittrigen Hände zur Faust ballt, dringt da immer ein Ruf durch, ein Ruf nach »Sehnsucht nach Leicht-Sinn und Vertrauensseligkeit«, wie Christa Wolf in ihrer Erzählung Kassandra inmitten der konflikt- und leidgeplagten Figuren ausfindig macht. Aber könnte das tatsächlich geschehen? »Voraussetzungen wären: vergessen, was ist oder sich davon frei machen.«
Zugegeben, manchmal ist es nicht ganz leicht, der Handlung bis in alle Winkel zu folgen. Angefangen mit dem sparsamen Erscheinungsbild, das selbst zum Rätseln einlädt, klaren die mehr monologischen Wortwechsel zunächst kaum über die Geschehnisse in Präsenz und Vergangenheit auf: Unbeabsichtigt oder deplatziert wirkt dies jedenfalls nicht. Es wirkt eher wie ein gut gewählter Zirkelschluss, der seine Wirkung auf das Gesamtgeschehen beibehält. Denn wenn die Figuren regelmäßig ihren eigenen Überlegungen ins Netz gehen, bedürfen die Zuschauer:innen keiner weiteren Bestätigung, um sodann alle fernen Gedankenbilder und Luftschlösser im Kern enttarnen zu können bzw. zu perspektivieren. Sie lassen die Not auf allen Ebenen anfassbar werden.
Sokola ist es zweifellos gelungen, mit Pirsch ein intensives und ansprechendes Narrativ zu schaffen, das den anderen nicht vereinnahmt für Verstehens- oder Aufarbeitungsprozesse, die die Beziehung zueinander als geheilt empfinden lassen könnten. Jedoch fehlt den Figuren das Vokabular, sicher jedoch die Bereitschaft, um Gegenseitigkeit im Gespräch herstellen zu können. Was allerdings nicht das Bedürfnis nach äußerlicher Sichtbarwerdung tilgt, ganz im Gegenteil: Es wird zur Forderung.
Weitere Vorstellungen gibt es am 8. und 24. März sowie am 17. April.