›Spazierengehen‹ und ›Flanieren‹ sind Begriffe, die harmlos klingen, nach Lustwandelei durch verwilderte Gärten und Schaufenstergucken an Sonntagen. An diesem Bild sägt die Anthologie Flexen. Flâneusen* schreiben Städte, die die literaturgeschichtlich dominante Figur des männlichen, privilegierten Flaneurs um 30 Stimmen von Frauen, People of Color und queeren Menschen bereichert – und damit das subversive Potenzial dieser Figur neu entdeckt.
Freya Morisse
Bild: by zweisichtig.de via pxhere, CC BY 2.0
Im Vorwort umreißen die Herausgeberinnen Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer zusammen mit »der Flâneuse« ihr Anliegen: den Begriff des Flanierens auszudehnen, bis er die Vielstimmigkeit der sich heute im Stadtraum umherbewegenden Personen erfasst. Da dem Flanieren allerdings das ›nette Spazierengehen‹ zu sehr anhafte, schlagen sie für die Perspektiven von Frauen, People of Color und queeren Menschen einen neuen Begriff vor: das Flexen. Bereits mit verschiedensten, eher männlich konnotierten Bedeutungen versehen, erweitern die Herausgeberinnen das Flexen um die Ebene der Flâneuserie und geben dementsprechend die folgende Definition:
Das Flexen ist also ein energetischer und performativer Akt, einer, der sich in verschiedenen Modi ereignet und durch den sich der öffentliche Raum verändert: Die Flâneuse gestaltet die Stadt aktiv mit; sie schleift sich deren Kanten zurecht. Und nicht nur das: Sie dokumentiert das Erlebte und schreibt sich damit Schritt für Schritt in die Literaturgeschichte ein. Das ist die heutige Idealvorstellung einer Flâneuse, wie sie im Vorwort laut wird.
Flanieren als Protest
Sozialhistorisch betrachtet war das widerständige Potenzial bereits im 19. Jahrhundert wesentliches Merkmal flanierender Personen. Zunächst bewegte sich der Adel in Gestalt des Dandys durch die europäischen Großstädte und protestierte damit gegen seine politische Entmachtung. Schon ab 1830 aber büßte die sozialhistorische Figur des (männlichen) Flaneurs an Exklusivität ein: Zunehmend begann auch das von der politischen Machtausübung ausgegrenzte Bürgertum zu flanieren, dessen Inszenierung seines ›verschwenderischen‹ Verfügens über die Zeit nicht nur Müßiggang, sondern auch Protest gegen Arbeitsteilung, Spezialisierung und Großstadtstress bedeutete. Diesen Prozess beschrieb bereits vor zwanzig Jahren Harald Neumeyer in seiner Dissertation Der Flaneur.
Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann, Lea Sauer (Hg.)
FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte
Verbrecher Verlag: Berlin 2019
272 Seiten, 18,00€
Daneben gab es wohl schon immer diverse Personen, die aus unterschiedlichsten Gründen und an unterschiedlichsten Orten ziellos durch den Stadtraum streiften. Allerdings war die Betrachterfigur des Flaneurs eindeutig männlich konzipiert, sodass eine Überschreitung der ihr eingeschriebenen Geschlechterpositionierungen eine radikale Umdeutung des Flanierens bedeutet hätte. Dies zeigt Susann Neuenfeldt in ihrer Studie über die Figur der Flaneurin, der Voyeurin und der Stalkerin im U.S.-amerikanischen Essay. Wer als Flaneur oder Flâneuse galt und gilt, hängt bis heute nicht zuletzt davon ab, »wer die größte Definitionsmacht besitzt, um das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu prägen«, so Matthias Keidel in seiner 2006 erschienenen Dissertation zur Wiederkehr der Flaneure.
Gegen diese traditionelle Exklusivität der Definitionsmacht schreiben die flanierenden Autorinnen in der Anthologie Flexen an. Dass den stadtgesellschaftlichen Strukturen heute gegenüber dem 19. Jahrhundert ein organisierendes Zentrum fehlt, dass stattdessen diverse Sozialfiguren in ihrer Gesamtheit das Soziale organisieren und sich gesellschaftliche Typisierungen längst ausdifferenziert und individualisiert haben, widerspiegeln die 30 Textbeiträge.
Die vielen Stimmen der Flâneuse
Eine Flâneuse darf hier jede sein, die sich in den öffentlichen Raum begibt, ihn beobachtet und sich aneignet. Entsprechend vielgestaltig präsentiert sie sich. Sie ist Schülerin und Mutter. Sie läuft durch Jakarta, Dresden, Berlin, Beirut und Mumbai. Sie fährt U-Bahn, sie fährt Fahrrad, sie sitzt im Café, sie schiebt den Kinderwagen. Sie schlendert und flüchtet. Sie reist durch unbekannte Städte und erkundet den eigenen Kiez. Sie geht bei Tag und bei Nacht, durchs Zentrum und durch die Peripherie. Sie fällt auf und sie geht unter.
Allein das Selbstvertrauen und den Mut aufzubringen, den das Flexen durch die Stadt erfordert, ist allerdings eine große Hürde, mit der einige Protagonistinnen ringen. Für manche steht die eigene Sicherheit im öffentlichen Raum infrage, zum Beispiel für die junge Frau in Mirjam Aggelers Text Wenn du lächeln würdest, die in der U-Bahn sexuell belästigt wird und daraufhin ihre Konsequenzen zieht: »Heute lieber Hose. Heute lieber unsichtbar.« Oder für Deniz Ohdes Protagonistin, die in Dresden – Chemnitz (drei Männer) hofft, den rechtsradikalen Demonstranten nicht aufzufallen.
Angst lähmt noch deutlicher Kamala Dubrovniks traumatisierte Hauptfigur in Hausnummer 29 und Leyla Bektaş Güerita, die Blonde, die sich auf den Straßen Mexikos permanent beobachtet und verfolgt fühlt. Diese Texte erzählen davon, wie schwierig es noch heute sein kann, sich nicht ausschließlich als angeschautes Objekt, sondern auch als betrachtendes Subjekt des öffentlichen Raums zu begreifen. Ihre Protagonistinnen wünschen sich, unsichtbar zu sein.
In anderen Texten flexen die Figuren auf beeindruckend mutige Weise durch die Städte. Sie wollen gesehen werden. So zum Beispiel Neha Singh in Julia Lauters Reportage Wie man eine Stadt erobert. Sie versucht die indischen Städte, die für Mädchen und Frauen »von ungeschriebenen Gesetzen und unsichtbaren Grenzen geprägt« seien, sicherer zu gestalten, indem sie mit anderen Aktivistinnen sogar nachts spazieren geht – als Zeichen des politischen Protests.
Mut bringt auch Özlem Özgül Dündars wütende Girlgang Die Luders auf, die durch die Straßen zieht und sich einfach nimmt, was sie will, ohne Rücksicht auf Gesetze und Höflichkeiten. Oder die Frau in Lea Sauers Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht, die ihre augenscheinlich durch Gewalt entstandenen Verletzungen offen durch die Straßen trägt, um auf sich aufmerksam zu machen. Es ist die Wut, die das Flanieren dieser Protagonistinnen antreibt.
Die Stadt als Erinnerungsort
Und dann gibt es jene, die beim Flanieren auf die Geschichte ihrer Stadt stoßen wie die Frau in Judith Coffeys Am Bayerischen Platz. Dort drängen sich ihr die anti-jüdischen Verordnungen an den Laternen auf, die als Mahnmale »zum Nachdenken über die eigene potentielle Mittäter*innenschaft anregen« sollen. Dieser Erinnerungsort ist für sie, die Jüdin, nicht vorgesehen; das jüdische Publikum »ist nur in der Vergangenheit real«, schlussfolgert die Protagonistin lakonisch.
Eine ganz andere Auseinandersetzung mit der Geschichte Berlins beschreibt Anneke Lubkowitz in ihrem Text Alleen und Frauen, der im Titel auf Eugen Gomringers Gedicht Avenidas anspielt, das bis vor Kurzem an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule zu lesen war und damit eine Debatte um Kunstfreiheit und Sexismus auslöste. Lubkowitz erzählt von ihrem Experiment, sich so lange vom Zufall durch die Stadt treiben zu lassen, bis sie auf eine Straße trifft, die nach einer Frau benannt wurde. Ihr Spaziergang verdeutlicht, wie Straßennamen als Instrumente von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur fungieren können. Drei Stunden braucht die Autorin, bis sie mit der Elisabethkirchstraße ihr Ziel erreicht.
Die Stadt muss erobert werden
Auch wenn diese Anthologie insgesamt vielstimmig klingt, so ist doch allen Beiträgen etwas gemeinsam: Im Gegensatz zu klassischen Flaneur-Texten wird das Flanieren oder Flexen darin als ein nicht-selbstverständlicher Akt vorgestellt. Niemand behauptet einen objektiven Blick auf die Stadt, sondern thematisiert die Subjektivität der eigenen Perspektive. Die Figuren setzen sich ins Verhältnis zur Stadt, sind durchlässig für ihre Zumutungen. Sie erzählen von einem Wechselspiel aus Sehen und Gesehen-Werden. Dadurch verändern die Texte die Sicht auf das Alltägliche und scheinbar Selbstverständliche. Sie helfen, das Gehen durch den öffentlichen Stadtraum in seiner politischen Dimension zu begreifen. »Space is a doubt,« schrieb Georges Perec; »I have constantly to mark it, to designate it. It’s never mine, never given to me. I have to conquer it.« Diese Anthologie lässt erahnen, wie viele Perspektiven einer (versuchten) Stadteroberung noch ungehört und ungelesen sind und wie viel Potenzial dieses Genre birgt. Und so endet das Vorwort mit einer Aufforderung an die Lesenden, selbst auf die Straße zu gehen und darüber zu schreiben.