Miteinander in den Literaturherbst 2024

Der 33. Literaturherbst stellt sein Programm vor. Es ist breit aufgestellt: Viele explizit politische Veranstaltungen mit Fokus auf Frieden und Verständigung, einiges zu Empowerment und dazwischen musikalische Highlights zu gleich drei Jubiläen, die gefeiert werden: Kafka, Kästner und Kant.

Von Lisa M. Müller

Bild: Madita Oeming, Gesa Husemann, Rebecca Claßen, Johannes-Peter Herberhold, Maria von Estorff (v. l. n. r.) © Privat

Die Programmhefte für den 33. Göttinger Literaturherbst sind auf den Punkt (zur Präsentation des Programms) geliefert worden. Wirft man einen Blick hinein, fällt auf, was auf der Pressekonferenz zu Beginn angekündigt wird: Das Programm für dieses Jahr steht unter dem Zeichen des Miteinanders. Entlang verschiedener Konfliktlinien möchte das Literaturfestival politischen Standpunkten Platz geben und zum Dialog einladen. Für eine klare, differenzierte Sicht auf die Dinge aka die weltpolitische Lage.

Klarer Blick

Bei den Veranstaltungen vom 18.-27. Oktober ist der Konflikt im Nahen Osten, im Gegensatz etwa zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sehr präsent. Der Literaturherbst bietet eine Plattform zu Verständigung – zumindest, was diesen Konflikt anbelangt. Eine explizit palästinensisch-israelische Romanbegegnung ist zwischen Sara Klatt und Joana Osman geplant. Eine weitere spannende Veranstaltung für ein besseres (gegenseitiges) Verständnis dürfte die Lesung Muslimisch-jüdisches Abendbrot mit Saba-Nur Cheema und ihrem Mann Meron Mendel werden. Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm stellt in Die Realität der Ideale ein utopisches Denken vor, in dem der Frieden im Mittelpunkt steht.

Was (literally) die Sicht im Literaturhaus angeht, wäre beinahe ein Balken bei jeder Veranstaltung an diesem Ort im Blickfeld gewesen. Das konnte dank des ehrenamtlich tätig gewesenen Bauleiters Thomas Münter aber (glücklicherweise) verhindert werden. Ihm sowie Stefan Lohr ist dieser 33. Literaturherbst gewidmet, da beide dieses Jahr leider verstorben sind. Sie prägen das Literaturfestival jedoch weiterhin: Münter durch die Räume des Literaturhauses selbst und Lohr durch die konzeptionelle Vorarbeit. Die beiden tragen das Festival somit nicht nur im übertragenen Sinn.

Empowerment und Popkultur

Angekündigt zum Schwerpunkt Empowerment wird ein ganzer Block an Veranstaltungen. Mit Ole Liebl geht es in der Literaturherbst-Auftaktveranstaltung zunächst um ein Nachdenken über Freundschaften als eine durch Liebe geprägte Beziehungsform. Julia Wolf und Yade Yasemin haben in einem feministischen Schreibkollektiv über Sexualität und Begehren geschrieben und stellen ihren Schreibprozess und das Resultat wir kommen vor. Am 21. Oktober diskutiert Madita Oeming mit Autorin Shila Behjat darüber, inwiefern man feministische Konzepte in der Erziehung von Söhnen beachten kann und muss. Ebenfalls mit Madita Oeming, diesmal in ihrer Rolle als Porno-Expertin, redet Ursina Donatsch einen »Pornoabend« lang über Pornos in Partnerschaften. Die Einladung der Anwältin und Autorin Mareike Fallwickl wurde den Veranstaltenden von mehreren auf Instagram vorgeschlagen – diesen Bitten wird Folge geleistet. Sie kommt nach Göttingen und spricht mit Anna Bers über ihren feministischen Gesellschaftsroman Und alle so still: Ein Nachdenken darüber, was eigentlich passiert, wenn Frauen sich der Arbeit verweigern.

Auch Personen, die man eventuell weniger durch Bücher, mehr durch den alltäglichen Medienkonsum kennt, bereichern den Literaturherbst: Die Wienerin mit dem Künstlerinnennamen »Toxische Pommes« ist in Österreich wie Deutschland für ihre politischen bis quatschigen Videos auf Instagram bekannt. Aus ihrem eher ernsten Buch Ein schönes Ausländerkind wird sie im Alten Rathaus vorlesen. Hinter den genialen Zeit-Grafiken mit dem Titel Torten der Wahrheit steckt Katja Berlin, sie kommt für einen satirisch geprägten Vortrag nach Göttingen. Diese eher durch visuelle Medien bekannten Persönlichkeiten werden ergänzt von Menschen, die eher auf auditiver Ebene bekannt sind. Verschiedene Podcaster sind vertreten und man bekommt die Möglichkeit, mal nicht nur ihre Stimmen zu hören, sondern die Personen audio-visuell wahrzunehmen. Philip Banse und Ulf Buermeyer kommentieren die Lage der Nation und bringen im bei Ullstein erschienenen Buch Baustellen der Nation auf den Punkt, worum sich politisch dringend gekümmert werden müsste.

Feierlichkeiten

Drei Jubiläen werden dieses Jahr beim Literaturherbst berücksichtigt: 100 Jahre Kafka, 125 Jahre Kästner und 300 Jahre Kant. Um diesen Feierlichkeiten gerecht zu werden, werden alle »drei Ks« musikalisch in Szene gesetzt. Zum Kafka-Jubiläum wird Dalibor Markovićs Roman Pappel: Die Geschichte eines Herumtreibers präsentiert – hier gibt es musikalische Untermalung durch das Elektro-Duo Psycho & Plastic, das den Soundtrack zum Buch fabriziert und die Beats zum Buch setzt. Das Kästner-Jubiläum wird bei einer Konzertlesung zusammen mit dem Göttinger Symphonie Orchester und dem Schauspieler Richy Müller gefeiert: Gleich zweimal wird die Geschichte Emil und die Detektive aufgeführt. Auch gibt es eine Würdigung des Kästnerillustrators Walter Trier mit Antje M. Warthorst und Tobias Rüther. Kants 300. Geburtstag wird melodisch u.a. mit Violine, Oboe und Cello untermalt begangen – Marcus Willaschek spricht mit Jonas Maatsch über Kants Denken und Wirken, während das Ensemble La Mandorle die Zeit der Aufklärung in die Aula bringt.

Das belletristische Highlight des Literaturherbstes ist natürlich die Buchpreis-Lesung am 19.10. – direkt nach Vergabe des Preises reist der:die Buchpreisträger:in nach Göttingen, um im Rahmen des Festivals zu lesen. Dieses Prozedere hat bereits Tradition und wird in diesem Jahr vor einem noch größeren Publikum stattfinden können, da die Feierlichkeit erstmals in der Sheddachhalle stattfindet. Die Moderation des Abends übernimmt Joachim Dicks. Belletristisch beendet wird der letzte Festivalabend schließlich mit Hape Kerkelings Gebt mir etwas Zeit. Er nimmt das Publikum des Deutschen Theaters mit in ein autobiografisch angereichertes, historisch recherchiertes Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

Zum Verhältnis von Choreografie und Improvisation

Die Vorstellung des Programms ist bis ins kleinste Detail professionell durchchoreografiert und bis auf wenige Ergänzungen bleibt alles Gesagte so stehen. Am Ende der Pressekonferenz betont Johannes-Peter Herberhold, dass Hass und Ausgrenzung hinter jeder Ecke lauern und wenn Nazis wie Björn Höcke politische Ämter besetzen würden, viele der – hier nicht komplett auflistbaren – über 80 Veranstaltungen gar nicht möglich wären. Ein Glück, dass diese Veranstaltungen stattfinden werden und die (politische) Meinungsbildung einiger Besucher:innen möglicherweise beeinflussen werden.

Es gibt Applaus und keine Fragen mehr. Lediglich Fotos wollen die verschiedenen Pressevertreter:innen für ihre kommenden Artikel noch machen. Nach den vielen Wechseln von Redner:innen auf der Bühne des Literaturhauses kommen dafür nun endlich alle an der Organisation Beteiligten auf eine trubelige Art zusammen. Trubelig ist es auch auf der anderen Seite: Alle versuchen gleichzeitig ein Foto zu schießen. Es wäre klüger, nacheinander zu fotografieren, damit den Organisator:innen immer klar ist, in welche Kamera gerade geschaut werden soll. Hier hakt es in der Choreografie und einen stört es besonders: Ein Fotograf wird gegenüber dieser Autorin laut, lässt seine kurz angestaute Aggression an ihr aus und macht dann seine Fotos, auf denen ihn alle mit nun vielleicht ein wenig eingefrorenen Lächeln durch seine Linse ansehen. Einer hat also schon bei der Pressekonferenz eine sehr klare Sicht auf die Dinge gewonnen. Glückwunsch!

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