Nach über 250 Jahren ist die heiter-verspielte Rokoko-Lyrik Johanne Charlotte Unzers in einer Neuausgabe erschienen: ein besonderes Stück Literaturgeschichte, die Stimme einer intelligenten Frau in Männerdiskursen, und vielleicht haben uns die Gedichte in diesen Tagen sogar noch etwas mehr zu sagen.
Von Philip Flacke
Bild: nanamori, ›2012/3/27 Evening […]‹, via Wikimedia Commons, CC BY 3.0
In diesen Tagen Rokoko-Lyrik lesen? Wie aktuell sind die Gedichte von Johanne Charlotte Unzer, die im Oktober in der Reihe »Die Anderen Klassiker« des Hannoveraner Wehrhahn Verlags neu erschienen sind? Der Herausgeber Michael Multhammer selbst ist skeptisch: »Eine Aktualisierung dieser Gedichte und ihrer Inhalte scheint kaum möglich, Johanne Charlotte Unzer bleibt als Dichterin literaturhistorisch ihrer Zeit verhaftet.« Es stimmt schon, die Anakreontik ist uns fremd – jene heiter-verspielte Lyrik des 18. Jahrhunderts, die mit klassischem Bildungsgut und in unendlicher Variationslust pointenreich die immer gleichen fünf Themen kombiniert: Geselligkeit, Liebe, Wein, Natur und Dichten. Das klingt dann zum Beispiel so:
Ein Schluß.
Mir kann der Saft der Reben
Stets neu Vergnügen geben.
Ich lache, scherz und singe,
Ich jauchze, hüpf und springe,
Es fliehen alle Schmerzen
Aus meinem frohen Herzen.
Bey Damis stillen Küssen,
Kann ich leicht alles missen,
Was andern Wollust dünket:
Drum Schwestern, liebt und trinket!
Da ist beinahe alles da: der Wein, die Sinnlichkeit, das Tändeln der Verliebten, der Frohsinn des Beisammenseins – bis hin zum generischen Schäfernamen Damis, hier als Maske in einem Rollenspiel. Der Schauplatz bleibt unbenannt, wer aber etwa eine Laube oder einen blickgeschützten Platz an einem Bach im Sinn hat, wird sich nicht allzu viel herausnehmen. Denn Unzer erfindet die Gattung nicht neu. Schon neun Jahre zuvor hatte der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim diesen Ton angeschlagen und viele hatten ihn seither aufgenommen.
»Schwestern, liebt und trinket!«
Relativ besonders aber ist der Schluss: Nicht: ›Brüder, liebt und trinket!‹, nein! – »Schwestern, liebt und trinket!« Mit der Gedichtsammlung Versuch in Scherzgedichten reklamiert Unzer eine von Männern entwickelte Gattung für sich und ihre Zeitgenossinnen. Dass sie sich bei so einem Unterfangen als Autorin rechtfertigen muss, weiß sie selbst, und sie tut es geschickt und selbstbewusst in einer Vorrede, nur um sogleich den Legitimationsdruck selbst scherzhaft zu entlarven. Sie wendet sich an diejenigen, die sich über sie aufhalten – das heißt sie tadeln –, weil sie Rollen-Ich und Autorin verwechseln:
Ich bin schon müde, mich zu entschuldigen. Der erste, der sich um solcher Ursachen willen über mich aufhält, und mich für verliebt und eine Trinkerinn ansehen wird, soll eine Elegie von mir haben, darinnen ich ihn und den Haß und das Wasser besingen will.
Für uns sind die Spielregeln von Unzers Dichtung historisch. Die Autorin arbeitet mit den Gattungskonventionen der Rokoko-Lyrik, sie verändert und erweitert sie. Zugleich weist sie an verschiedenen Stellen das Subversive demonstrativ zurück. Die wiederholt angesprochenen Schwestern sollen am anakreontischen Spiel teilhaben, aber, so erklärt ein Vers in einem anderen Gedicht, der genauso gut auch fehlen könnte: »Liebet auch die Tugend«!
Wie weit Unzer geht
Wer Gleims Gedichte wiederliest, darf überrascht sein, wie weit auch er schon geht. Überhaupt sind die Freiräume der Anakreontik beachtlich groß. Metrisch ohnehin, aber auch, wenn es um Geschlechterdiskurse geht, um Begehren und Gefühle, um Themenvielfalt und aktuelle Fragen aus Wissenschaften und Kultur, ja selbst um all das, was die heitere Draußen-Welt dieser Dichtung vor Probleme stellen müsste: Winter, Einsamkeit, unerwiderte Liebe, Alter, Tod und Krieg. Trotzdem geht Unzer besonders weit. So, wenn sie in dem Gedicht »Auf einem Landhause« mit Wucht ein Gewitter beschreibt, das dann freilich wieder durch eine Rokoko-genehme sanfte Stimmung abgelöst wird. Oder, wenn in »Der Sieg der Liebe« extreme Gefühle geschildert werden. Für jene vorpreschende Begierde, von der dort als ›Vorwitz‹ die Rede ist, scheint unser Wort ›Neugier‹ eher schwach zu sein.
Es tobt in der Brust,
Bey Seufzern und Thränen,
Ein Vorwitz zur Lust,
Ein treibendes Sehnen.So oft ich dem Witz
Zu lächeln befehle;
Durchdonnert ein Blitz
Von Schrecken die Seele.
Der Witz, der Verstand also, kann nicht mehr kontrolliert werden; die Heiterkeit kippt immerzu. Später, zum Schluss des Gedichts, lässt sich die Heftigkeit der Emotionen kaum noch einholen durch die Gattungsmaximen Lebensbejahung und Mäßigung.
Gleim schon hatte in Rollengedichten und einer Herausgeberinnenfiktion weibliche Perspektiven eingenommen, Frauen als schaffende Subjekte, Männer als erotisches Objekt eines female gaze beschrieben, Intimität zwischen Männern bedichtet, Geschlechterrollen vertauscht. »Ich will stikken, du solst malen«, sagt in einem Gedicht »An Doris« ein männliches Sprecher-Ich zur Geliebten. Soeben hat sie noch seinen halbnackten Körper als Stickmotiv gewählt, nun sollen sie die gegenderten Ausdrucksmittel wechseln. Die eben noch gestickt hat, will den malen, der nun sticken will. Bei Unzer aber werden die realen Lebensbedingungen für Frauen im aufgeklärten Jahrhundert konkret mitgedacht: die Einschränkungen der Rede im Männerdiskurs, Bildungschancen, der Stellenwert der Ehe, die Altenpflege als Aufgabe der Frauen. Eine Figur, die Leser:innen der männergemachten Rokoko-Literatur immer wieder begegnet, ist die Spröde. So wird dort eine junge Frau genannt, wenn sie dem Werben eines Mannes nicht nachgeben will. Unzer dagegen verteidigt dichtend das Neinsagen als legitime Haltung – wenn auch nicht so konsequent, wie heutige Leser:innen es sich wünschen mögen. »Unterschied im Antworten« heißt so ein Gedicht von ihr:
Mägdchen! wenn die Männer schreyn:
Kommt und laßt euch zärtlich küssen!
Wißt ihr, was wir sagen müssen?
Nein!(…)
Aber stünd ein Jüngling da,
Gar die Eh uns anzutragen;
Wißt ihr, was wir müßten sagen?
Ja!
Weintrinken auf dem Mars?
Unzers scherzhafte Gedichte sind vielseitig: belesen, aber leichtfüßig, oft heiter und einfallsreich, mal verträumt und mal entlarvend. Sie schreibt auf der Höhe ihrer Zeit, reagiert auf aktuelle Entwicklungen und stellt manche Eitelkeiten männlich dominierter Diskurse bloß – immer mit dem heiter-verspielten Blick der Anakreontikerin. Wer sonst könnte den Ur-Schauplatz der heroischen Dichtung mit dem Diminutiv ›das Städtchen Troja‹ bezeichnen? Als in einem der Gedichte ein Ich durch eine Sommernacht spaziert und Mond und Sterne betrachtet, erscheinen diese zuerst ganz klassisch: »Diane, im blassen Gewande, / Mit Sternen umgeben«. Dann, man hat ja den Frühaufklärer Fontenelle gelesen, als »unzähliche Sonnen« und »wandelnde Welten«, auf denen es vielleicht sogar Leben geben könnte. – Aber, überlegt schließlich die Anakreontikerin: Wo es Leben gibt, muss man auch scherzen und lieben und trinken!
Johanne Charlotte Unzer
Versuch in Scherzgedichten
Hg. von Michael Multhammer
Wehrhahn: Hannover 2021
181 Seiten, 18,00 €
Als ein Stück Literaturgeschichte sind diese Gedichte allemal lesenswert. Und doch: Unzers Texte bewegen sich fast fortwährend zwischen Geselligkeit und Einsamkeit, zwischen Teilhabe und Ausgeschlossensein. Hat uns in der Pandemie solche Literatur nicht noch etwas mehr zu sagen? Selbst ganz auf sich gestellt kann das Ich dieser Gedichte noch anakreontisch agieren: »Geliebte Einsamkeit, wie sehr vergnügst du mich!«, setzt ein Gedicht mit dem Titel »In der Einsamkeit« zu Alexandrinern an, in denen Fleming und Gryphius noch nachhallen, aber voll Lebensfreude:
Hier bin ich mir genug. Der falschen Freunde Schwarm
Eilt zu des Reichen Tisch. Die Scheinlust mit dem Neide
Zieht nach der Fürsten Hof: ich aber lieg im Arm
Der Tugend, neben mir der Scherz und treue Freude.
Mit den Augen der Anakreontikerin betrachtet kann noch die Einsamkeit gesellig sein. Wie sie hier als selbstgewähltes Refugium vor der Eitelkeit der Welt beschrieben wird, ist diese Einsamkeit freilich nicht dieselbe wie die der Pandemie. Auch bekommt das Bild der isolierten Selbstgenügsamkeit für die Sprecherin im Gedicht schließlich einen Riss: Zumindest den Geliebten sehnt sie doch herbei.
Die Edition
Das Buch ist keine historisch-kritische Ausgabe, sondern folgt der zweiten Auflage von 1753. Dass Unzers teils beträchtliche Überarbeitungen im Vergleich zur ersten 1751 nicht dokumentiert werden, ist also nachvollziehbar. Unbegründet bleibt, warum nicht die Ausgabe letzter Hand von 1766 zugrunde gelegt wurde. Die Entscheidung ließe sich rechtfertigen, wenn man sich der Einschätzung des Unzer-Forschers Thomas Gehring anschließt, die Autorin habe dort zuletzt den kecken Ton mancher ihrer Gedichte nachträglich abgedämpft. Multhammer erwähnt die dritte Auflage jedoch nur in einer missverständlichen Formulierung, als sei sie mit der zweiten identisch: »Eine zweite, deutlich vermehrte Auflage (…) erschien 1753 und dann noch einmal 1766.«
Den Gedichten ist ein längerer Anhang beigegeben. Schade ist, dass das einzige in der zweiten Auflage weggefallene Gedicht »Der Tod« dort nicht aufgenommen ist, erfreulich dafür der Abdruck einiger zeitgenössischer Rezensionen (S. 131–137). Ein ausführliches Nachwort (139–173) informiert über Kanonisierungsfragen, Unzers Leben und Werk und den Versuch in Scherzgedichten im Speziellen. Darin zeigt Multhammer unter anderem, wie der Göttinger Germanist Gustav Roethe Ende des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung mit Unzer aktiv zu unterbinden suchte.
Um das Verständnis zu erleichtern, ist außer dem Nachwort ein Stellenkommentar beigegeben (119–130). Während manche Erklärungen hilfreich sind, wirken andere irritierend. Wenig zielführend wird beispielsweise erklärt, Argus sei von Hermes erschlagen worden, von dem zuvor bloß unter dessen römischem Namen Mercur die Rede war. Die Angabe von Argus’ Beinamen wäre in der Form Panoptes (›Alles-Seher‹) ohne Griechisch-Kenntnisse schon unnütz, als »Panoptesder« ist sie auch noch falsch. Relativ bekannte Namen wie Diane und Bacchus, Voltaire und Molière werden erläutert, nicht aber viele heute unübliche Begriffe und Wendungen wie ›es lässt‹ für ›es scheint‹ oder ›auf Schrauben setzen‹ für eine Strategie, sich mit Worten nicht festzulegen. Auch Ausdrücke, die bekannt scheinen, aber eine Bedeutungsveränderung durchgemacht haben, bleiben mitunter unerklärt. ›Toll‹ mag auch ohne Erläuterung richtig als ›verrückt‹ verstanden werden; unter ›Egoist‹ versteht den Vertreter einer bestimmten Erkenntnistheorie hingegen nur, wer den Begriff in Unzers Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer nachschlägt: »Ein solcher Egoist machte iedermann weiß, daß er allein würklich vorhanden wäre, daß er ein einfaches Ding sey, welches sich seinen eigenen und alle übrige Körper, ja die ganze Welt, nur zu einem erlaubten Zeitvertreibe, einbildete«. Im Stellenkommentar sucht man vergebens.
Im 18. Jahrhundert zulässige Schreibweisen in Unzers Text und den Rezensionen werden als vermeintliche Druckfehler aufgeführt und ›korrigiert‹; zum Beispiel: »gefodert« für ›gefordert‹, »vortreflich« mit einem f, »zun biegsamen Gipfeln« für ›zu den biegsamen Gipfeln‹ (und nicht für »zu biegsamen Gipfeln«, wie nun zu lesen ist). Die Neuausgabe weist auch an anderen Stellen Fehler im Text auf. Manches sind bloß Kleinigkeiten, so wenn Friedrich von Hagedorn einmal als »Hagendorn« erscheint (37), sonst aber richtig. In anderen Fällen gehen Fehler auf Kosten von Unzers gründlichem Versbau, wenn nämlich die Silbenzahl nicht mehr stimmt: »Liebt« statt »Liebet« (51), »Lernet« statt »Lernt« (59), »erneuerten« statt »erneurten« (73), »entschlafenen« statt »entschlafnen« (86). Auch fehlender Einzug bei Antilabe oder in Oden-artig gebauten Texten ist zumindest für Metriker:innen bedauerlich. An wieder anderen Stellen entsteht ein Bedeutungsunterschied: »Luft« statt »Lust« und »find« statt »sind« (59 und 100), »Den« statt »Bey« (43), »Unmuth« statt »Anmuth« (55),»das« statt »hat« (94), »dich« statt »sich« (100). In einem Zitat von Roethe müsste, mit einem Spottwort Abraham Gotthelf Kästners auf die kurzen Verse der Anakreontik, von »Dreiquerfingerzeilen« die Rede sein. Was aber sollen »Dreiquersingerzeilen« (171) sein? Wenngleich die Liste solcher Fehler und Versäumnisse sich fortsetzen ließe: Dass es eine Neuausgabe von Unzers Versuch in Scherzgedichten gibt, ist ein Gewinn.