Mit BIC und Pastis

Triggerwarnung: Erwähnung von physischer, sexualisierter Gewalt

Querwege ist der dritte und letzte Roman von Albertine Sarrazin. Albe, das Alter Ego der Autorin, erzählt von ihren Vergehen, ihren Gefängnissen und ihrer Haft sowie von ihrem Schreiben und ihrem Begehren. Über den Titel in der Neuübersetzung von Claudia Steinitz sprach Litlog bei der Weihnachtsfeier der Germanistik auf der ThOP-Bühne.

Bild: ©Mara Becker

Notorischer Ungehorsam
Von Tanita Kraaz

Es ist schwierig über Albertine Sarrazins Literatur zu sprechen, ohne über Albertine Sarrazin zu sprechen (das passierte auch schon in unserer Rezension zu Der Ausbruch). Vielleicht genauso schwierig wie ihre Literatur zu lesen, ohne sich mit der Protagonistin zu identifizieren. Albertine Sarrazin starb 1967 mit 29 Jahren. Schuld war die Fahrlässigkeit ihres Anästhesisten bei einer eigentlich harmlosen Nierenoperation. Darüber haben sich schon viele Literaturkritiker*innen echauffiert – doch: Es bleibt empörend, wie ungeheuer banal ihr Tod im Vergleich zu ihrem Leben wirkt. Und es bleibt bedauernswert, dass sie bis dahin lediglich drei Romane über dieses Leben geschrieben hat.

Albertine Sarrazins Alter-Ego, die angehende Autorin Albe, erzählt darin ihre eigenen Gefängnisgeschichten. Darunter fallen natürlich ihre Gefangenschaften in den verschiedenen Besserungs- und später Justizvollzugsanstalten Frankreichs, ihre Unfreiheit bleibt allerdings auch nach ihrer Entlassung in Querwege eine Konstante. Was die Protagonistin in der Obhut der Bürgerlichkeit durch Aufseherinnen in einem Heim für in Not geratene Frauen, dem christlichen Kloster ihrer Adoptivmutter ›Mother‹ oder ihren Vermieterinnen erlebt, führt sie unweigerlich zu sukkzessive entschiedeneren Ausbrüchen. Ihr Umgang mit den Spießbürgerinnen bleibt vorerst pragmatisch, sie verweigert sich innerlich. Wenn ihre Nachbarin Mme Rivière sie nach ihrer Entlassung scheinfreundlich fragt, »Mme Albe! Was war denn mit Ihnen? Wir haben Sie gar nicht mehr gesehen!«, bleibt ihre wache und wütende Antwort ein innerer Monolog:

Du weißt genau, alter Drachen, dass ich nur für die Familie zu sehen war, Touristin im kalten Land, du hast es in der Klatschzeitung gesehen und mein Foto sicher sorgfältig aufgehoben!

Der Rivière gegenüber bleibt sie indes höflich, denn ihre Mahnung an andere hat sie internalisiert:

Hüte dich vor dem Tratsch!

Als sie dann ihren ersten bürgerlichen Job als »Hilfsverkäuferin« im Supermarkt Prisunic bekommt, ist sie – vorhersehbarerweise – umgehend angeödet. Am dortigen Eisstand nutzt sie ihre Macht schon für ein rührendes Robin-Hood-Manöver: »ich verfeinere und entstelle meine Kreationen je nach Kunden: Für Kinder gibt es eine Schale zum Preis eines Löffels, für Nörgler höre ich genau am Eichstrich auf.« Und obwohl ihr nächster Job als freie Journalistin bei einem Lokalblatt sie offensichtlich begeistert, kommt sie von ihrem Ungehorsam nicht los. In einer Filiale ihres ehemaligen Arbeitgebers liest sie »Bedienen Sie sich!« und kann nicht widerstehen: »Also bediene ich mich, voller Groll und Vorsatz: Ich werde nie so viel Fressen stehlen, wie ich verkauft habe. Ich bezahle Zeug für ein paar Franc und schiebe den Rest in meinem großen Korb unter der Kasse vorbei: teuren Schnaps, Tiefkühlgerichte, feine Konserven, Krabben, Langusten, Schnecken … wenn schon, denn schon!«

Albe ist keine tugendhafte Frau. Sie trinkt und stiehlt und erzählt von ihrer ausbleibenden Periode. Sie berichtet von der Sehnsucht nach ihrem Schreibwerkzeug, oftmals einem BIC, und nach Pastis und ihrem inhaftierten Ehemann. Wenn sie das Begehren nach ihm ausdrückt, informiert sie kurz darauf über ihre ausgiebige Masturbation und darüber, »dass ich auf alle Schwänze pfeife!« Trotz augenfälliger Inkonsequenz verfällt diese Frauenfigur mitnichten in einen apologistischen oder gar lebensrevisionistischen Tonfall.

Zum Glück steht Weihnachten gerade nicht kurz bevor, denn offensichtlich eignet sich Querwege nicht wirklich, um harmoniesüchtig unter den klein- bis bildungsbürgerlichen Weihnachtsbaum gelegt zu werden. Es eignet sich vielleicht, um an eingeweihte Kompliz*innen weitergegeben zu werden – am besten jedoch eignet es sich, um egoistisch mit ausreichend Müßiggang im Stillen verschlungen zu werden. Dieser Freiraum lässt sich im Übrigen mit folgender der Protagonistin eigenen Strategie erkämpfen: »Um Annäherungsversuche und Neugier zu entmutigen, gebe ich mich so mürrisch und herablassend, wie ich kann.«

Der mutmaßliche Tod der Autorin
Von Amelie May

macbook

Albertine Sarrazin
Querwege

Übers. von Claudia Steinitz
Ink Press: Zürich 2019
228 Seiten, 20,00 €

Wenn Protagonist*in und Autor*in eines literarischen Werks auch nur ansatzweise einen ähnlichen Namen tragen, dann drängen sich den literaturwissenschaftlich geschulten Leser*innen oftmals zwei Positionen auf, die in ihrer Gegensätzlichkeit dann resolut vertreten werden: Entweder, der*die Autor*in ist tot und sollte für die Rezeption keine Rolle spielen, oder aber diese theoriebildende Idee Roland Barthes᾽ ist stattdessen tot. Der Roman Querwege aber ist ein Beispiel dafür, dass sich auch mit den Zwischennuancen wunderbar spielen lässt.

Wenn sich eine Biographie schon so aufregend und spektakulär liest wie die Albertine Sarrazins, dann ist es besonders verlockend, sich bei der Lektüre ihrer Romane auf eine papierne Schnitzeljagd zu begeben. Und die Eckdaten von Autorin und Protagonistin stimmen miteinander überein, wie wir von der Ich-Erzählerin Albe schon im ersten Kapitel erfahren, die in beklemmender Geschwindigkeit von den bisherigen Stationen ihres jungen Lebens erzählt: von ihrer Adoption, davon wie sie als Kind herumgereicht wurde, von ihren Raubzügen, Festnahmen und Gefängnisaufenthalten, immer und immer wieder. Und sie erzählt von ihrem Geliebten, Lou, der zur einzigen wirklichen Konstanten in ihrem Leben werden wird, mit dem sie dieses Leben fast schon durchchoreographiert:

Seit zehn Jahren geht es ständig so, rein ins Gefängnis und wieder raus, heiraten, uns trennen, uns helfen, wieder heiraten.

Was Albe neben Lou antreibt, ihr Leben hinter Gittern und dem Gefängnis gesellschaftlicher und kleinbürgerlicher Konventionen zu überstehen, ist ihr Traum, Schriftstellerin zu werden. Als sie als Journalistin bei einer Lokalzeitung anfangen kann, scheint sie ihrer Passion zumindest einen Schritt näher gekommen zu sein. Doch wie auch bei der Ausübung ihrer vorherigen Jobs ist Albe vornehmlich ziemlich angeödet, sie verurteilt den lokalen journalistischen Betrieb als sensationalistisch und eigentlich ziemlich belanglos und verurteilt ihn sogar als »Trickserei«, was in Anbetracht ihrer kriminellen Aktivitäten doch ein dreistes, aber erfrischendes Urteil darstellt. Wie Sarrazin Albe ihren Job beschreiben lässt, ist in seinem scharf beobachtenden Witz so pointiert enttarnend wie auch amüsant. Die Monotonie ihres Alltags mündet in Kommentierungen, die vor Zynismus nur so triefen. Albe ergibt sich gelangweilt und routiniert den alltäglichen Tricksereien, während ihre Kollegin »jedes Mal hin und weg ist, wie ›pikant‹ und ›klar‹ mein Geschreibsel ist.«

Besonders reizvoll ist, dass die Leser*innen nie erfahren, was Albe für Texte schreibt. Nur ihre Kommentare übers Schreiben und die Eindrücke ihrer Umwelt werden in diesem – man möchte fast sagen typisch sarrazinhaften – Ton präsentiert und geben uns wenigstens einen kleinen Einblick darin, was sie wohl in ihren Texten verarbeiten mag: »Ich habe ihr erzählt, dass ich mit anakreontischen Oden und kleinen Liebesromanen zugange sei – und es stimmt, mein Buch wird kein großer Hassroman: Von meinem Gefängnis, das gleichermaßen seine Kulisse, seine Wünschelrute und sein Autor ist, möchte ich nichts hassen, verleugnen oder vergessen, sonst würde ich selbst verschwinden; ohne das Gefängnis bin ich nichts. Das Gefängnis hat mich die Last einer Sekunde, die Qualität eines Seufzers, die Kraft eines Lächelns gelehrt: Ich werde sein Mittler, sein Hofschreiber sein. Ich werde die aufgerollten Bilder abspulen und daraus den Stoff auf das Papier sticken.«

Solche Reflexionen Albes, aus Albertine Sarrazins Feder stammend, vermögen das literarische Schaffen von Autorin und Protagonistin zumindest für einen Augenblick zu verquicken, lassen eine Lesart abseits von den eingangs erwähnten scheinbar widersprüchlichen Herangehensweisen an Texte zu. In den Erfahrungen, die Sarrazin ihrer Protagonistin mitgibt, in ihren Romanen sind sie vereint und werden der Nachwelt hoffentlich noch viele weitere Jahre nach Albertine Sarrazins Tod erhalten bleiben.

Poetische Egozentrik
Von Marek Sievers

In Albertine Sarrazins Roman verkehren sich die juristischen Verhältnisse des Frankreichs der 60er Jahre: Aus der Angeklagten »Albe«, die sich wegen mehrerer Einbruchsdelikte strafbar gemacht hat, wird auf den ersten Seiten eine Anklägerin:

wenn er sich bereiterklärt hätte, mich wieder bei sich aufzunehmen, damit ich die Chance gehabt hätte, wieder abzuhauen; wenn sie eingewilligt hätten, uns laufen zu lassen, damit wir den Spaß gehabt hätten, sie wieder rennen zu sehen… Aber nein: Die Worte sind nie gekommen, und nach der Verlesung des Urteils blieb auch der Zusatz »auf Bewährung« aus.

Diese Anklage gilt dem verstorbenen Adoptivvater, ein diktatorischer Familienpatriarch unter dessen Regime sowohl die jugendliche Albe als auch ihre Adoptivmutter zu Lebzeiten gelitten haben. Schuldig im Sinne der Anklage ist er schließlich der Auslöser für den »Holocaust meiner Jugend« (ginge es nicht auch eine Nummer kleiner?) gewesen. Wie beiläufig folgt die Schilderung eines missglückten Selbstmordversuches im Gefängnis und der durch die Gefängnisaufenthalte immer wieder unterbrochenen Beziehung zu ihrem Geliebten. Sarrazins Romaneinstieg lässt kaum Luft zum Atmen, ist unterkühlt-distanzierter und eben deshalb so brutal wirkender Richterspruch – ohne Bewährung.

Aus der Haft entlassen, verfällt Albe schnell zurück in alte Muster, die vermeintliche Freiheit des Alltags entpuppt sich für sie schnell als eine Fortführung des Strafvollzugs. Die Rolle der Schließerinnen wird nahtlos durch Nachbarn oder die Vermieterin übernommen, die kleinen Zimmer versprechen nicht viel mehr Komfort als die Gefängniszelle. Für persönliche Freiheit bleibt keine Zeit: »Obwohl sich im Sommer die Wege und ihre Möglichkeiten vervielfachen, kann ich jeden Morgen nur den einen nehmen, der zu Prisunic führt, und jeden Sonntag den, der zu Lou führt.« Aufgrund der Häufung der Umzüge und Ortswechsel, drohen diese Gefängnisallegorien jedoch über die gesamte Distanz des Romans überhand zu nehmen. Zwar lebt der Text von seiner expressiven Sprach- und Bildlichkeit, an manchen Stellen hätte es etwas weniger jedoch auch getan.

Bemerkenswert bleibt allerdings die Schärfe, mit der Sarrazin dieses Gefängnis des Alltags durchschaut. An die teilweise mäandernden Gedankengänge der Protagonistin knüpfen sich fabelhaft genaue Beobachtungen über das stumpfsinnige Gewusel des Kleinbürgertums im muffigen Einkaufszentrum oder das schrullige Beisammensein der Nonnen im Kloster. Immer mit dem ironischen, leicht verächtlichem Unterton einer unnahbaren Distanz:

Sie haben keine Ahnung, dass die wahre, die unauslöschliche geheime Prägung, die das Gefängnis auf mir hinterlassen hat, der Abstand, die überlegene Gleichgültigkeit ist, mit der ich die Menschen und die Dinge betrachte, diese Ruhe.

Es geht dieser Protagonistin nicht darum, Verständnis oder gar Sympathie für sich selbst und ihre Handlungen zu erheischen. Momente, in denen sie Reue für ihre Taten empfindet, bleiben aus. Ein rührender Moment des Rückfalls, die Möglichkeit des Wiedererlebens einer nie da gewesenen Kindheit während des Klosteraufenthalts bei ihrer Adoptivmutter, unterstrichen durch eine spielerisch-kindliche Sprache »Drei Gluckgluckgluck Kaffee, zwei Gluckgluck Milch«, schlägt schnell in kühle, reflektierte Ernüchterung um: »Aber nein, ich fange an zu kindeln, ich erweiche mich in verspäteter, steriler Wiedergutmachung.« Sie wird ihrer Mutter erneut den Rücken zukehren, nicht jedoch, ohne vorher noch etwas Geld abzustauben. Allein in ihrer Liebe zu Lou weicht die distanzierte Kälte einer rührenden Zärtlichkeit und wahrhaftiger Emotionalität: »Für Lou mache ich mich schön, auch wenn ich ihn anrufe, wenn ich ihm schreibe, sogar wenn ich an ihn denke«.

Es gibt nur eins, das selbst dieser Liebe noch übergeordnet werden muss und das für Albe schließlich den einzigen Weg in die Legalität und die tatsächliche Freiheit des Lebens bedeuten kann – das Schreiben. Allein das Schreiben verspricht die Möglichkeit einer Zukunft fernab des kriminellen Milieus, in dem Freundschaften nur so lange von Wert sind, wie sie einen persönlichen Vorteil versprechen. Es ist der Antrieb dieser immer weiter unbeirrt voranpreschenden Erzählerin, die sich nie im literarischen Milieu zuhause gefühlt hat und stets den »Querweg« dem geraden vorzog. Es ist ihre Möglichkeit »die Leere der Stunden zu übersetzen.« So bleibt der Roman, trotz der teilweise etwas ausufernden Expressivität, ein eindrückliches Leseerlebnis von poetischer Egozentrik und Authentizität.

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