Magie der Worte, Kritik der Gesellschaft

Rebecca F. Kuangs »Babel« verbindet Magie, Sprachen und Gesellschaftskritik. Die zentrale Silbermagie, eingebettet in einen anspruchsvollen Kontext, behandelt tiefgründig Themen wie Kolonialismus, Migration und Sexismus und bleibt nachhaltig im Gedächtnis.

Von Lena Heykes

Bild: via Pixabay, CC0

Babel von Rebecca F. Kuang (Eichbornverlag 2023, aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan) nimmt die Leser:innen mit auf eine 730 Seiten lange Reise voller Magie, sprachwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Themen, verteilt auf fünf Bücher. Im Zentrum der Geschichte steht ein Junge aus dem chinesischen Kanton, der sich später selbst Robin Swift nennt.
Die Handlung setzt im Jahr 1828 ein, als Robin durch die Cholera seine Familie in Kanton verliert. Von dem Sprachwissenschaftler Professor Richard Lovell, der in China auf der Suche nach neuer Literatur ist, wird er nach England mitgenommen. In England erhält Robin Unterricht in Latein, Altgriechisch und Chinesisch, um sich auf sein Studium am Königlichen Institut für Übersetzung im Turm an der Universität Oxford vorzubereiten, auch bekannt als Babel.

Die Kunst des Silberwerkens: Magie, Macht und Sprache in Babel

Das Buch wird als Fantasyroman präsentiert, doch diese Genre-Zuordnung wird der vielschichtigen Themenvielfalt von Babel nur bedingt gerecht. Kuang webt eine Geschichte, die nicht nur Magie und Fantasie beinhaltet, sondern auch historische Persönlichkeiten und Ereignisse geschickt einbindet. Der Fantasyaspekt offenbart sich in der Kunst des Silberwerkens, die in Babel praktiziert wird, einer geheimnisvollen Praxis, bei der Worte in Silberbarren graviert werden, um bestimmte Effekte auf magische Weise zu erzeugen.

»[D]ie Macht der Barren liegt in den Worten. Genauer gesagt in dem, was durch Worte nicht ausgedrückt werden kann – das, was wir verlieren, wenn wir zwischen den Sprachen vermitteln. Das Silber fängt ein, was verloren ging, und verschafft ihm Existenz.«

Die Silberbarren und die damit verbundene Sprachmagie sind das Herzstück der Machtstrukturen in Babel. Je mehr Silber eine Nation besitzt und je versierter die Übersetzer:innen in den Studien der Sprachen sind, desto überlegener ist das betreffende Imperium. Die Autorin führt die Leser:innen in eine Welt, in der Silber und Sprachen als Schlüssel zur Macht dienen. Die Magie des Silberwerkens hat Großbritannien zu globaler Macht verholfen, und Oxford, als Zentrum, zum Nabel der Welt gemacht.

Gesellschaftskritik im Gewand von Fantasy: Migration und Sexismus

Trotz des Fantasysettings ist Babel in erster Linie eine eindringliche Gesellschaftskritik, die sich mit verschiedenen Themen des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt. Die Figuren Robin Swift aus Kanton, Victoire Desgraves aus Haiti und Ramy Mirza aus Kalkutta, die als Studierende am Institut im Fokus stehen, ermöglichen den Leser:innen einen Einblick in die Erfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund in einem Land, das von Überheblichkeit geprägt ist. Die Art und Weise, wie die Protagonisten als ›fremd‹ behandelt werden, sowohl in den Lehren von Babel als auch im täglichen Leben, offenbart die vielschichtige Problematik von Fremdenfeindlichkeit. Besonders deutlich zeigen sich die Anfeindungen und Gewalt gegenüber den ausländischen Studierenden am Institut von Babel im Fall von Ramy, der aus Indien stammt und angefeindet wird, weil er einen Talar trägt, obwohl er eben nicht wie die englischen Studierenden eine weiße Hautfarbe hat und daher der Meinung der englischen Studierenden nach auch nicht in Oxford studieren darf.

»Die Atmosphäre war umgeschlagen. Von der Freundlichkeit unter Gelehrten war, so sie zwischen diesen Gruppen je geherrscht hatte, nichts mehr zu spüren. ›Du darfst keinen Talar tragen‹ beharrte Mark. ›Zieh ihn aus.‹ Ramy machte einen Schritt auf ihn zu. Robin hielt ihn am Arm fest. ›Nicht.‹ ›Hallo, ich rede mit dir.‹ Mark kam jetzt über die Straße auf sie zu. ›Was ist los? Kannst du kein Englisch? Zieh den Talar aus, hörst du? Zieh ihn aus.‹«

Ein ebenso bedeutender Aspekt in Babel ist Sexismus. Die Engländerin Letty Price, eine der Hauptfiguren, erfährt aufgrund ihres Geschlechts Einschränkungen und Diskriminierung.

»Wenn Ramy einen Professor berichtigte, war er mutig und brillant; wenn Letty dasselbe tat, war sie aufmüpfig. Wenn sie in der Bodleiana ein Buch ausleihen wollte, musste Ramy oder Robin dabei sein und seine Erlaubnis geben.«

Das Buch wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Hierarchie und die Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft, sowohl in Bezug auf Bildungschancen als auch auf soziale Normen.

Kolonialismus und Kapitalismus in Babel: Verstrickungen und Widerstand

Ein weiteres zentrales Thema, das Kuang aufgreift, ist der Kolonialismus. Obwohl Großbritannien im Roman als Kolonialmacht dient, verdeutlicht die Autorin die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus auf die unterdrückten und ausgenutzten Länder im Allgemeinen. Die Zerstörung von Kulturen und die Versklavung von Völkern werden detailreich beschrieben, und Kuang zeigt, wie der Kolonialismus mit dem gelebten Fremdenhass verknüpft ist.

»Das ist kein Zufall; das ist bewusste Ausbeutung fremder Kulturen und fremder Ressourcen. Die Professoren tun gerne so, als wäre der Turm die Zuflucht für reines Wissen, als ob er über den weltlichen Belangen von Geschäft und Handel stünde, aber das tut er nicht. Der Turm ist eng mit dem Geschäft des Kolonialismus verwoben. Er ist das Geschäft des Kolonialismus.«

Die kolonialistische Ausbeutung wird im Besonderen durch den Opiumhandel dargestellt. Die Geschichte von Robin und seinen Kommiliton:innen nimmt eine Wendung, als sie für eine praktische Übung während ihres Studiums mit Professor Lovell nach Kanton aufbrechen und Robin bei Verhandlungen zum Opiumhandel unterstützen sollen. Das chinesische Kanton weigert sich jedoch, den Opiumhandel zu legitimieren, und Großbritannien nutz dies als Vorwand für einen Krieg. Dieser Handlungsstrang bringt auch das Thema des Kapitalismus ins Spiel. Kuang zeigt, dass nach kapitalistischen Spielregeln alles erlaubt ist, solange es Geld einbringt und das eigene Land nicht gefährdet ist. Der sogenannte ›faire Handel‹ wird hinterfragt und die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Gesellschaft werden kritisch beleuchtet.

»Es ist egoistisch. All unser Silber wird für Luxusgüter eingesetzt, fürs Militär. Um Spitzenbodüren und Waffen herzustellen, während überall auf der Welt Leute an simplen Dingen sterben, die mit einem Barren ausradiert werden könnten. Es ist nicht richtig, dass Sie Studenten aus anderen Ländern für die Übersetzungszentren rekrutieren und dass ihre Heimatländer nichts dafür erhalten.«

In diesen Verstrickungen zwischen Kolonialismus und Kapitalismus versuchen Robin und seine Freunde mit Unterstützung des Hermes-Bundes, dessen Mitglieder Angehörige oder ehemalige Angehörige von Babel sind, die Absichten des Übersetzungs-Instituts zu untergraben und eine gerechtere Welt zu schaffen. Ihr Engagement für diese Bewegung führt zu einer zunehmenden Konfrontation mit den etablierten Machtstrukturen von Babel, da sie nicht nur die Bedeutung des Silberwerkes, sondern auch das imperialistische Handeln Großbritanniens ethisch infrage stellen. Sie unterstützen beispielsweise, den Diebstahl von Übersetzungen aus Babel und gehen politisch gegen kolonialistische Absichten vor, um so Widerstand zu leisten und die ungerechten Strukturen zu bekämpfen.

Rebecca F. Kuang
Babel

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution. Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan.
Eichborn Verlag: Köln 2023
736 Seiten, 26,00 €

Der Klappentext beschreibt das Buch als »einen spektakulären Roman über die Magie der Sprache, die Gewalt des Kolonialismus und die Opfer des Widerstands.« Diese Beschreibung trifft den Kern von Babel. Die Macht der Worte, die politischen Intrigen und die ethischen Dilemmata werden geschickt miteinander verflochten. Zusätzlich werden die Leser:innen vor die Frage gestellt, welche Aspekte der Geschichte real und welche fiktiv sind, wodurch eine weitere Ebene der Faszination geschaffen wird.

Dark Academia trifft auf Fantasy: Oxford als Kulisse für Babels komplexe Welt

Das Setting des Buches evoziert eine geheimnisvolle Dark Academia-Ästhetik, die durch das akademische Oxford-Umfeld und einen oft formellen Stil geprägt ist. Der Roman bietet jedoch mehr als nur eine akademische Kulisse, da er mit Elementen von Magie, Historie und Gesellschaftskritik angereichert ist.

Rebecca F. Kuangs Schreibstil ist mitreißend und eindringlich, insbesondere wenn die Freunde gezwungen sind, zusammenzuhalten, um einen Mord zu vertuschen, oder wenn Spannung aufgebaut und deutlich wird, dass die Vier schließlich auf unterschiedlichen Seiten stehen. Etappenweise wird es jedoch auch anstrengend. Insbesondere dann, wenn Worte und ihre Herkunft umfangreich analysiert werden oder Fußnoten mit Worterklärungen und fiktiven Ereignissen sich über mehrere Seiten erstrecken. Die detaillierten Darstellungen der Charaktere, der Welt von Babel und der historischen Bezüge zeugen jedoch von umfangreichem Wissen und einer tiefgehenden Recherche.

Damit ist Babel kein leichtes Buch, sondern eine anspruchsvolle Lektüre, die die Leser:innen dazu auffordert, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen. Die Handlung mag bisweilen stagnieren, doch gerade in diesen Momenten entfaltet Kuangs Erzählkunst ihre volle Wirkung. Die Lesenden werden zum Nachdenken über die Macht der Sprache, die Grausamkeiten des Kolonialismus und die ethischen Entscheidungen der Protagonist:innen angeregt. Rebecca F. Kuangs Babel ist ein eindringliches und lesenswertes Plädoyer gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung. Die Autorin verwebt geschickt Fantasy-Elemente mit historischen Realitäten und schafft so eine Erzählung über die Bedeutung von Sprache, den Preis der Macht und die Notwendigkeit des Widerstands.

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