Als Gewinner des Deutschen Buchpreises 2023 zeigt Tonio Schachinger bei seiner Lesung von Echtzeitalter, wie Gaming und Literatur zusammenfinden können. Humorvoll und authentisch spricht Schachinger beim Literaturherbst über sein Buch, welches er gezielt einem politischen Statement entzieht.
Von: Sofia Peslis
Bild: Sofia Peslis
In einer Zeit, in der Gaming und Literatur zuweilen als Welten voller Gegensätze erscheinen, betritt Buchpreisgewinner Tonio Schachinger die Bühne des Alten Rathauses in Göttingen, um mit seinem Roman Echtzeitalter das genaue Gegenteil zu beweisen. Das gemischte Publikum hat die Stühle bis zum letzten Platz besetzt und wartet gespannt auf das Gespräch mit dem Autor, der die Zuhörenden mit seiner faszinierenden Verschmelzung von jugendlichem Leichtsinn und Tradition immer wieder zum Auflachen bringt. Denn Schachinger redet nicht nur über die Besonderheiten seines Werkes, sondern überzeugt auch durch Humor und Authentizität.
Literatur abseits der Weltpolitik
Was sofort klar wird: Der Buchpreis 2023 kommt durchaus weniger politisch daher als im vergangenen Jahr, wodurch sofort eine andere Stimmung herrscht. Bemerkenswert gelassen betritt Schachinger das Podium. Im Kontrast dazu steht Kim de l’Horizons Auftritt ein Jahr zuvor. Manche mögen sich erinnern: De l’Horizon hatte sich vor der Lesung zum Zeichen der Solidarität mit den Frauenprotesten in Iran die Haare rasiert.
Und auch der Moderator ist ein anderer, da Stephan Lohr, seit Jahren fester Bestandteil der ersten Lesung außerhalb der Frankfurter Buchmesse, krankheitsbedingt verhindert ist. Stattdessen übernimmt Joachim Dicks die Moderation der diesjährigen Lesung, lässt es sich aber dennoch nicht nehmen, das Gespräch mit Lohrs traditioneller Frage »Wie war denn die vergangene Woche überhaupt für Sie?« zu starten. Schachinger offenbart die Nervosität, die mit der Preisverleihung einherging, erzählt von einem fast tranceartigen Zustand und den darauffolgenden Tagen, in denen er glücklicherweise beinahe täglich eine Siesta habe genießen können.
Dann kommt Dicks schnell auf Schachingers Dankesrede bei der Preisverleihung zu sprechen. Als »knappgehalten« charakterisiert er diese und verweist darauf, dass Schachinger deutlich gemacht habe, nur wenig zur weltpolitischen Lage beitragen zu können. Dennoch wird nachgehakt. Musste Schachinger sich in weiteren Interviews diesbezüglich äußern? Wie blickt er selbst auf seine Worte zurück? Fast schon ironisch wirkt es also, als dieser nochmals verdeutlicht, dass es schwer für ihn sei, über politische Situationen zu sprechen, und er sich diesbezüglich nicht weiter habe äußern müssen. Schachinger gibt zu, dass ihm nicht bewusst gewesen sei, wie hoch die politischen Erwartungen an den Buchpreis seien, da für ihn die literarische Qualität im Vordergrund stehe, während andere möglicherweise eine stärkere politische Stellungnahme erwarteten. Der Österreicher fasst so den politischen Abschnitt der Gesprächsrunde zusammen und beendet ihn dementsprechend: »Ich habe ein Buch geschrieben. Das wurde ausgezeichnet. Das war’s dann auch eigentlich.«
Verschiedene Welten und Anglizismen
Schachingers Gesellschaftsroman, welcher bereits im Frühjahr bei Rowohlt erschienen ist, fängt die Strömungen und Widersprüche unserer Gesellschaft auf. In Echtzeitalter begleitet der Lesende Till Kokorda, einen Jugendlichen, der eine Leidenschaft für Computerspiele hegt, allen voran Age of Empires 2, und dadurch heimlich eine Online-Berühmtheit ist. Schachingers Schreibstil ist humorvoll und ungeschminkt ehrlich, während Tills Reise ihn durch Welten des Gamings, der Tradition und der Suche nach authentischem Glück führt. Als es im Gespräch mit Dicks darum geht, woher Schachinger die Ideen für seine Geschichten nehme, gibt es einen kleinen Rückblick zu seinem Debütroman von 2019 über Fußballspieler. Schachinger erzählt dem Publikum, wie seine Ideen entstehen, indem er auf Interessen eingeht, in die er eher »zufällig hineingerät«. Dicks, neugierig auf Schachingers spezifische Interessen, fragt nach, woraufhin dieser humorvoll antwortet, er könne sich stundenlang über mexikanische Schlagersänger der sechziger Jahre unterhalten, was zu einem Scherz über sein potenzielles nächstes Buch wird.
In Echtzeitalter konzentriert sich Schachinger auf die Welt des Gamings. In den verschiedenen Textpassagen, die am Abend vorgetragen werden, fallen immer wieder Gaming-Begriffe, von denen die meisten (es sei denn sie sind genauso involviert in Videospiele wie Protagonist Till) wohl noch nie etwas gehört haben werden. Dabei betont Schachinger das Unverständnis von Figuren des Romans, wie Tills Mutter, die wenig mit Gaming am Hut hat, außer dass sie CandyCrush auf dem Smartphone spielt, und kaum Verständnis für gewalttätige Ballerspiele zeigt. Schachinger macht deutlich: Für viele Menschen ist das Internet und damit auch das Gaming ein Zufluchtsort, der nicht zwangsläufig nur negative Seiten besitzt. Als Dicks das Suchtpotential des Gamings anspricht, antwortet Schachinger fast schon zu ehrlich: »Ja, es hat Suchtpotential, weil es eben auch etwas Positives hat!«
Ein weiterer Aspekt, welcher aufgegriffen wird und nicht nur im Gaming zu finden ist, sind Anglizismen. Schachinger zeigt auf, dass die Verwendung englischer Begriffe die Kommunikation und das Verständnis beeinflussen kann. Wie auch zuvor scheint der Moderator eher an den negativen Aspekten hängen geblieben zu sein und weist darauf hin, dass Anglizismen die deutsche Sprache verarmen könnten, da man sich eher davor drücke, etwas beim Namen zu nennen. Doch auch hier antwortet Schachinger souverän positiv: »Ich schätze, es ist oftmals leichter für Leute auszudrücken, wie sie fühlen, wenn sie dies auf Englisch tun. Zu sagen „Ich habe mental health issues“ geht einfacherer, als „Ich habe mentale Gesundheitsprobleme“.« Amüsanterweise scheint Dicks direkt die Stellung des Lehrers im Roman wiederzugeben, der scharf jede Verwendung von Anglizismen verurteilt und verteufelt. Er verweist darauf, dass dieser Lehrer dazu beitrage, die Sensibilität aufrecht zu erhalten. Man solle sich erinnern, so Dicks, dass es Sinn ergebe und nicht Sinn mache, woraufhin Schachinger kontert: »Naja, irgendwann macht es auch Sinn, weil es alle sagen.«
Ganz unkompliziert
Schachinger erweist sich während der Lesung als ein Autor, der nicht nur durch sein Buch, sondern auch durch seine lebendige und sympathische Persönlichkeit überzeugt. Während Dicks einmal fast eine Minute damit verbringt, der simplen Frage »Schmeißen Sie viel weg beim Schreiben?« einen tieferen Sinn zuzusprechen, verstrickt sich Schachinger nicht in akademische Formulierungen und antwortet schlicht mit einem lächelnd vorgetragenen »Ja, das tue ich.« Diese Einfachheit und direkte Reaktion auf Fragen zeigt Schachingers unverkrampften Umgang mit seinem eigenen Werk. In der Tat scheint Echtzeitalter nicht nur ein literarisches Projekt zu sein, sondern fast schon ein Teil seiner eigenen Identität. Während man zwanghaft versucht, über Schreibprozess und Hintergrundinformationen zu philosophieren und allem einen tieferen Sinn zu verleihen, sieht Schachinger die Dinge einfach so, wie sie sind, und erzählt sie dementsprechend auch genauso. Diese offene und zwanglose Ehrlichkeit kommt beim Publikum gut an und wurde während des gesamten Abends immer wieder mit Lachen begrüßt. Die Lesung des Buchpreisträgers 2023 erwies sich als ein erfrischender Auftakt zum Literaturherbst, der zeigt, dass Literatur manchmal nicht mehr sein muss als das, was sie hoffentlich ist: Ein gutes Buch.