Liebe zum Detail

Tonio Schachingers Echtzeitalter gewann – verdientermaßen – den Deutschen Buchpreis 2023. Es handelt sich um einen Entwicklungsroman, der junge und ältere Leser:innen zugleich in seinen Bann zu ziehen vermag. Insbesondere der authentisch beschriebene Schauplatz und die detailreich ausgestatteten Figuren erwecken den Roman zum Leben.

Von Caroline Densch

Bild: via Pixabay (Ausschnitt), CC0

Zur Handlung

Der im Rowohlt Verlag erschienene Roman begleitet den Protagonisten Till vom Beginn seiner Schulzeit am Marianum, einem elitären Wiener Gymnasium, bis zu seinem Schulabschluss. Die Handlung ist dabei in relativ flachen Spannungsbögen aufgebaut, was viel Raum dafür lässt, die persönliche Entwicklung des Protagonisten von einem Kind zu einem jungen Erwachsenen zu verfolgen. Dennoch wäre es falsch zu sagen, dass der Roman keine Spannung zu bieten hat. Kleinere Konflikte und Herausforderungen sind stets in die Handlung eingebettet, was Lust darauf macht, Tills Geschichte weiter zu verfolgen; mal stehen Freundschaften im Vordergrund, mal Schwärmereien, mal Computerspiele und mal Tills Beziehung zu seinen geschiedenen Eltern.

Wie für viele Jugendliche ist die Schule für Till ein großer Bestandteil seines Lebens – das ist in seinem Fall auch nicht zu vermeiden, da es sich beim Marianum um ein Tagesinternat handelt. Dort wird Till von seinem Klassenlehrer schikaniert und auch bei seinen Mitschüler:innen findet er zunächst keinen Anschluss. Seinen ersten Freund, Georg, lernt er schließlich im Informatiksaal kennen, wo die beiden jede freie Minute nutzen, um Computerspiele zu spielen oder über selbige zu lesen.

Age of Empires II

Vor allem das Strategiespiel Age of Empires 2 hat es den beiden angetan. Das Spiel wurde 1999 herausgegeben und 2019 zum zwanzigsten Jubiläum neu aufgelegt, Till spielt jedoch die ursprüngliche Version und erwartet mit Spannung die Neuveröffentlichung. Als Leser:in muss man keineswegs selbst Gamer:in sein, um Schachingers Ausführungen folgen zu können. Dennoch stellt es einen zusätzlichen Anreiz dafür dar, den Roman zu lesen, wenn man zumindest etwas Interesse an Computerspielen und deren Funktion im Leben Jugendlicher mitbringt. Die Darstellung von AOE 2 ist sehr gut in den Roman eingebettet: wichtige Begriffe und Handlungen werden verständlich erklärt, aber gleichzeitig beschränkt sich die Beschreibung einzelner Spielsequenzen auf kurze Einblicke und Highlights. Der Fokus liegt immer darauf, welche Rolle AOE 2 für Till spielt. Das Spiel nimmt schnell einen wichtigen Platz in seinem Leben ein und nachdem es zunächst nur ein passioniert betriebener Zeitvertreib ist, wird es schließlich zu einer Notwendigkeit, um mit dem Stress des Alltags umzugehen. Tills Ehrgeiz und Einsatz zahlen sich aus und so kommt es dazu, dass er innerhalb der AOE 2-Community einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Viele seiner Mitschüler:innen, aber vor allem Erwachsene, haben jedoch wenig bis gar kein Verständnis dafür, dass er so viel Zeit wie möglich mit AOE 2 verbringen möchte.

»Wüsste Tills Mutter, dass es bei Computerspielen nie um Gewalt geht, sondern immer um Immersion, und brächte sie diese Erkenntnis damit in Verbindung, wie sie es empfindet, in ein Kunstwerk einzutauchen, in einen Haneke-Film oder ein Händel-Oratorium, dann könnte sie vielleicht verstehen, warum Till sich zu etwas hingezogen fühlt, das ihm jeden Abend garantiert, was Kunst nur in ihren besten Momenten schafft.«

Mit Kommentaren wie diesem fordert Schachinger veraltete bildungsbürgerlich-konservative Denkweisen heraus. Diese werden vor allem von Tills Klassenlehrer, genannt ›der Dolinar‹, verkörpert. Till macht sich beim Dolinar sehr schnell unbeliebt, als dieser erkennt, dass Till seine Zeit vorzugsweise mit diversen Computerspielen verbringt, anstatt sich mit deutschsprachigen ›Klassikern‹ zu beschäftigen.

Liebe zum Detail

Schachinger widmet vielen seiner Figuren eine Einführung, die mal nur ein Satz, mal mehrere Absätze umfasst. Diese Beschreibungen werden häufig an späterer Stelle erweitert, was Tills eigene Entwicklung und die damit einhergehenden Veränderungen und Revisionen ursprünglicher Einschätzungen spiegelt. Die mit viel Witz und Beachtung kleinster Details ausgestatteten Charakterisierungen der Figuren sind eine der größten Stärken dieses Romans. Das klingt dann z. B. so:

»Man muss sich den Gruber, Tills Vizeklassenvorstand, als einen großen hinkenden Mann vorstellen, der zum Dolinar im gleichen Verhältnis steht wie Sancho Pansa zu Don Quijote, der beschwichtigt und ausgleicht und im festen Glauben lebt, er arbeite einem Genie zu.«

Der Dolinar hat sich seinen Status als Genie hart erarbeitet: »seinen Klassen eilt seit dreißig Jahren ein spezieller Ruf voraus«, welcher auf sehr gute Noten, wenige Schulabbrecher und »das tadellose Benehmen seiner Schüler, ihre Unauffälligkeit, ihre Verschwiegenheit« zurückzuführen ist. Außerdem hat er ein für einen Lehrer ungewöhnliches, man könnte auch sagen nahezu übergriffiges, Interesse am und Einfluss auf das Privatleben seiner Schüler:innen. Entsprechend viel Raum widmet Schachinger daher auch den wiederholten Charakterisierungen des Dolinars. Dieser wählt seine Unterrichtsgegenstände gemäß der Maxime: »nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist«, aus. Sieht man den Dolinar zu Beginn des Romans noch als groteske Karikatur eines strengen, klassizistisch-verschrobenen Lehrers, so gewinnt er nach und nach an Tiefe. Till beschreibt den Dolinar beispielsweise als einen der schärfsten Kritiker des Marianums, eine Ansicht, welche Till teilt, obwohl die Kritiken der beiden von vollkommen unterschiedlichen Standpunkten ausgehen.

»Im Grunde geht es dem Dolinar mit dem Marianum wie mit der Katholischen Kirche, seine Kritik gilt nur dem Umstand, dass die Gegenwart der Institution ihrer Geschichte nicht gerecht wird, aber seine Kritik kann trotzdem für diejenigen anschlussfähig sein, die mit der Institution an sich ein Problem haben.«

Wenngleich der Dolinar dadurch weder für Till noch den:die Leser:in allzu sympathisch wird, so ist es dennoch interessant die Entwicklung dieses Charakters und Tills wachsendes Verständnis desselben verfolgen zu können.

Schauplatz: Wien

Nicht nur die Figuren erhalten in Schachingers Roman unverwechselbare Züge, sondern auch die verschiedenen Handlungsorte, wie etwa Tills Schule, das elitäre Marianum. Auch abgesehen von diesem ist die städtische Kulisse keineswegs austauschbar: die Wiener Caféhauskultur, Schauplätze wie der Heldenplatz und handlungsrelevante Beschreibungen einzelner Stadtteile und Straßen tragen zu einem authentischen Lesegefühl bei. Zudem gibt es unzählige Referenzen auf sozial-politische Themen, welche in den 2010er Jahren in Wien (und Österreich allgemein) von Bedeutung waren, wie beispielsweise die Ibiza-Affäre. Die Kombination aus detaillierten Beschreibungen der Kulisse und dem Einbetten der Geschichte in einen wiedererkennbaren gesellschaftlichen Kontext erlauben es dem:der Leser:in sich in Till hineinzuversetzen und tragen zu einem zusätzlichen Spannungsaufbau bei. Letzteres ist besonders effektiv, wenn man mit dem Verlauf der beschriebenen (politischen) Ereignisse vertraut ist. Um beim Beispiel der Ibiza-Affäre zu bleiben: als informierte:r Leser:in wartet man nur darauf, dass der vormalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz von den Konsequenzen für seine Beteiligung an der Ibiza-Affäre eingeholt wird. Dies erlaubt einem darüber zu spekulieren, welche Position die jeweiligen Charaktere wohl vertreten werden.

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Tonio Schachinger
Echtzeitalter

Rowohlt Verlag: Hamburg 2023
368 Seiten, 24,00 €

Die Ausdrücke, welche Schachinger seinen Figuren in den Mund legt, sind von einem wienerisch-österreichischen Dialekt geprägt. Dabei gelingt es dem Autor sehr gut, die vorwiegend hochdeutsche Erzählstimme mit Gesprächen, die Dialektwörter und -phrasen beinhalten, zu vereinen. Zusätzlich sprechen Schachingers Figuren mit spezifischen Sozio- und Ideolekten. So benutzen Till und seine Mitschüler:innen zunehmend mehr Anglizismen und Tills Klassenlehrer, welcher sich eine schlechtere Ausdrucksweise kaum vorstellen kann, spricht »ebenso wenig Standarddeutsch […] sondern ein grotesk veraltetes Theaterdeutsch mit kärntnerischem Einschlag, eine individuelle Kunstsprache, bei der Vokale offen gesprochen und bis zur Unkenntlichkeit gedehnt werden«. Genau solche Beschreibungen stark individualisierter Ausdrucksweisen verleihen Schachingers Erzählung ein lebendiges und authentisches Gefühl.

Echtzeitalter als Spiegel der Gegenwartsliteratur

Mit Echtzeitalter ist es Schachinger gelungen, glaubwürdige Porträts von Figuren und Handlungsorten zu schaffen, ohne dabei die Handlung zurückzustellen. Die Kombination aus (relativ) aktuellen sozial-politischen Themen, die Thematisierung von Gaming und die Fülle an interessanten und distinkten Charakteren ermöglichen es Leser:innen mit unterschiedlichen Interessen und aus einer weiten Spanne an Altersgruppen einen Zugang zu dieser Erzählung zu finden. Dieser moderne Entwicklungsroman hält, was die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis 2023 verspricht; in den Worten der Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Karin Schmidt-Friedrichs: »Für uns als Leser*innen macht er die Vielfalt und Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erlebbar«.

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