»Leerstellen«

Die Frühjahrslesung von Anne Rabe im Literaturhaus Göttingen präsentiert das Debütwerk der Autorin: »Die Möglichkeit von Glück«. Durch die strukturierte Diskussion und Lesung werden sowohl ostdeutsche Geschichte und gesellschaftliche Herausforderungen als auch persönliche Motivationen der Autorin beleuchtet.

Von Lena Heykes

Bild: Lena Heykes

Am Abend des 5. April 2024 findet im Literaturhaus Göttingen die Lesung von Anne Rabe statt, die ihr viel beachtetes Debütwerk »Die Möglichkeit von Glück« präsentiert. Die Atmosphäre vor der Lesung ist lebhaft, mit angeregten Gesprächen und einer lockeren Stimmung unter den Besuchenden. Ein Blick auf das vorbereitete Podium verrät, dass das Buch, aus dem Anne Rabe nur wenig später lesen wird, schon einiges mitgemacht hat – Kaffeeflecken und deutliche Gebrauchsspuren zeugen von einer intensiven Nutzung.

In den Abend führt Anna-Lena Markus ein, leicht verspätet, da das Plätzefinden bei der restlos ausverkauften Lesung im Rahmen der zweiten Göttinger Frühjahrslese doch etwas länger dauert als erwartet. Sie stellt Rabe als vielseitige Künstlerin vor, mit großer Erfahrung als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Zu den Romanautor:innen zählt Rabe noch nicht so lange, dennoch wurde ihr Debüt von verschiedenen Literaturstimmen gelobt und sei wenig überraschend auf der Short-List des Deutschen Buchpreises gelandet. Wobei Rabe an dieser Stelle einwirft, dass sie hingegen doch sehr überrascht gewesen sei und so für einen amüsierten Moment im Publikum sorgt.

Eine literarische »Leerstelle« nach der Wiedervereinigung

Daniel Frisch, der als Lektor im Steidl Verlag tätig ist, führt das Gespräch am Abend und lobt »Die Möglichkeit von Glück«, da es eine »Leerstelle« in der Literatur und Geschichte zu füllen beginne. Erschienen im März 2023, erlebte das Buch bereits 17 Neuauflagen und erregte viel Aufmerksamkeit durch den neuartigen Umgang mit der Geschichte nach der Wiedervereinigung in Deutschland. Denn in ihrem Roman beleuchtet Rabe die Herausforderungen einer Generation, die zwischen den Systemen der DDR und der wiedervereinigten Demokratie gefangen ist und zeigt die tiefen Wunden einer SED-Familie, während diese sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt.

Intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und aktuellen Themen

In einem spannenden und abwechslungsreichen Gespräch entlockt Daniel Frisch der Autorin ihre Gedanken zu einer Vielzahl von Themen. Rabe geht auf jede Frage sympathisch offen und mit Engagement und Detailwissen ein, scheut sich aber auch nicht, Wissenslücken über die Situation etwa in Westdeutschland nach der Wende einzugestehen.

Die Atmosphäre der Lesung ist entspannt und Rabe versteht es meisterhaft, humorvolle Aussagen in das Gespräch einzubauen, wodurch die ernsten Themen aufgelockert werden. Die lebendige Interaktion zwischen Rabe und Frisch sorgt für eine informierende und lebendige Atmosphäre. Das Publikum verfolgt die Lesung gebannt und ist von der Unterhaltung und der charmanten Art der beiden begeistert.

Rabe betont im Gespräch die Bedeutung einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die oft schmerzhafte Recherche erfordere. Auf Frischs Nachfrage verweist sie dabei auch darauf, dass es durchaus Parallelen zwischen dem Buch und ihr selbst gebe. So sei die Geschichte von Stines Großvater sehr nahe an der Geschichte ihres eigenen Großvaters. Auch die Fragen, die Stine sich im Buch stellt, sind Fragen, die sich Rabe selbst gestellt habe, bevor sie den Roman schrieb. Die Antworten, die Stine im Laufe der Handlungen findet, seien Antworten, die Rabe in verschiedenen Archiven zusammengetragen, aber auch in Gesprächen mit ihren Freunden gefunden habe.

Während der Lesung reflektiert Rabe auch über ihre Motivation, das Buch zu schreiben, und über die Relevanz des Themas angesichts aktueller politischer Entwicklungen. Sie habe das Projekt 2019 begonnen, als die AFD insbesondere in Ostdeutschland hohe Ergebnisse erzielte. Sie habe sich gefragt, warum gerade ihre Altersgruppe (Rabe ist Jahrgang 1986) die hohen Ergebnisse dieser Partei mitbeeinflusse und schrieb darüber zuerst den Essay Kaltes Land, aus dem schließlich ihr Debütroman wurde. Sie betont in diesem Zusammenhang auch, wie wichtig es sei, die Gewalt in der DDR und der Zeit danach nicht zu verharmlosen und die persönlichen Erfahrungen der Menschen ernst zu nehmen sowie aufzuarbeiten.

Ost-West-Perspektiven und die Herausforderungen der Aufarbeitung

Die gegen Ende des Abends beginnende Fragerunde mit dem Publikum bringt weitere Einsichten, insbesondere über die unterschiedlichen Perspektiven von Ost und West auf den Roman und die Herausforderungen der Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte. Rabe hebt die Bedeutung von Archiven und persönlichen Erzählungen hervor, um die »Leerstellen« in der offiziellen Geschichtsschreibung zu füllen und ein umfassendes Bild der Vergangenheit zu zeichnen.

Auch nach der Rezeption des Buches in Ost- und Westdeutschland wird gefragt. Rabe betont, dass das Interesse an ihrem Werk in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen stark sei und es viele Parallelen in den Diskussionen gebe. Insbesondere im Osten sei jedoch eine intensivere Auseinandersetzung mit den Themen zu beobachten. Dann geht es um die Skinhead- und Rechtsextremen-Szene in Ostdeutschland, darum, wie diese nach dem Ende der DDR entstanden ist. Rabe erklärt, dass diese Gruppen bereits vor der Wiedervereinigung auch in der DDR existierten und sich aus verschiedenen Gründen formierten, darunter zählt sie das Erbe rassistischer und nationalistischer Traditionen sowie eine allgemeine Verunsicherung durch den gesellschaftlichen Umbruch.

Die Frage einer Zuhörerin zur kontrovers diskutierten Gewalt, die Stine sich selbst zufügt, ist aus weiblicher Perspektive sehr bewegend und bringt Rabe dazu, verschiedene Aspekte des Umgangs mit Gewalt zu beleuchten. »Es gibt verschiedene Arten mit Gewalt umzugehen. Oft tragen Männer Gewalt nach außen, Frauen hingegen eher nach innen.« Diese Unterschiede sollen auch mit gesellschaftlichen Strukturen zu tun haben. Rabe betont, dass Beziehungen trotz häuslicher Gewalt in der ehemaligen DDR nicht nur aus finanziellen Gründen aufrechterhalten wurden, sondern oft aus einer anderen Ursache heraus. In der DDR hätte es beispielsweise keine Frauenhäuser oder Anlaufstellen bei häuslicher Gewalt gegeben. Diese Einrichtungen seien erst nach der Wende eingerichtet worden und seien dann sofort überfüllt gewesen. Rabe macht deutlich, dass sie die Gewalt von Frauen gegen sich selbst in ihrem Roman bewusst als Mittel eingesetzt habe, um die Leser:innen für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren.

Eine Lesung voller Tiefe und Leichtigkeit

Die offene Fragerunde endet mit einer Historikerin, die wissen will, ob sich Rabe als Chronistin verstehe und inwieweit das Buch auf Fakten oder Fiktion basiere. Rabe erklärt, dass sie sich nicht als Chronistin betrachte, aber dennoch versuche, historische Themen aufzugreifen und durch emotionale Geschichten ein breiteres Verständnis derselben zu vermitteln.

Abschließend lädt Daniel Frisch die Zuhörenden zur Buchsignierung ein. Die Lesung bietet so nicht nur eine tiefgründige Auseinandersetzung mit einem schwerwiegenden Thema, sondern auch eine Gelegenheit, die sehr sympathische Autorin kennenzulernen. Trotz der Schwere der Thematik schaffte es Rabe immer wieder, die Stimmung aufzulockern und das Publikum mit ihrer sympathischen Art zu begeistern. Ihre Fähigkeit, ernste Themen mit Leichtigkeit zu behandeln, macht die Lesung zu einem eindrücklichen Erlebnis für alle Anwesenden.

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