Didier Eribon gilt nicht nur in Frankreich als Ikone der Soziologie. In Göttingen stellt er seinen neuesten Roman Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben vor. Ein Abend, der wichtige Einblicke in die französische Gesundheitspolitik eröffnet, sich aber auch mit Schuld und Trauer auseinandersetzt.
Von Maja Maske
Bild: Carine Debrabandère, Didier Eribon und Jan Reinartz (v. l. n. r.) © Svenja Brand
Das Literarische Zentrum Göttingen veranstaltet am 28. Mai eine Lesung mit dem französischen Soziologen und Autor Didier Eribon im Göttinger Alten Rathaus. Eribon stellt seinen neuesten Roman Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben vor, welcher am 10. März 2024 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.
Der Saal im Alten Rathaus ist gut gefüllt mit motiviertem Publikum, vorwiegend älterer Generation. Mit dabei sind die Redakteurin Carine Debrabandère als Moderatorin und Übersetzerin und der Schauspieler Jan Reinartz, der einige Romanpassagen auf Deutsch vorliest. Es wird ein augenöffnender Abend über die Zustände im französischen Gesundheitssystem mit bewegenden Schilderungen aus Eribons Familienleben.
Doppelte Schreibmotivation
Zentral für den Abend ist das Gespräch zwischen Eribon und Debrabandère auf Französisch, in dem Eribon vor allem über seine Mutter, ihre Krankheit und ihren Aufenthalt in einem Pflegeheim berichtet. Im Gespräch nennt er zwei Gründe, die ihn zum Schreiben seines Romans bewegt hätten: Einerseits gebe es den persönlichen Beweggrund: die Erlebnisse seiner Mutter im Pflegeheim und ihr Tod.
Durch die altersbedingte Gebrechlichkeit seiner Mutter sei der Umzug in ein Pflegeheim als einzige mögliche Lösung erschienen. Eribons Mutter sei erst dagegen gewesen, habe dann aber zugestimmt. Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft im Pflegeheim sei sie verstorben, weil sie keinen Lebenswillen mehr gehabt habe. Eribon erzählt davon, wie sehr es ihn belastet habe, die Nachrichten seiner Mutter über die schlechten pflegerischen Zustände im Heim – nur eine Dusche pro Woche – auf dem Anrufbeantworter abzuhören. Nach ihrem Tod, der mit großer Trauer besetzt gewesen sei und ihn sehr belastet habe, sei das Anlass für ihn gewesen, sich in einem Buch mit den eigenen Erfahrungen und dem persönlichen Erleben seiner Mutter auseinanderzusetzen – das gleichzeitig auch überpersönlich ist:
Andererseits gebe es nämlich den theoretisch-politischen Beweggrund. Dazu gehört, dass ältere Menschen keine Lobby besäßen und Eribon zu deren »Pressesprecher« werden wolle, um auf die gesellschaftlichen Missstände in der französischen Sozialpolitik aufmerksam zu machen und sie anzuprangern. Denn diese stehen für ihn dahinter, dass sich das Pflegeheim nur notdürftig um seine Mutter gekümmert habe, aus Personalmangel nur notdürftig habe kümmern können. Eribon erzählt weiter, dass er sich geschämt habe, über diese Zustände nicht Bescheid gewusst zu haben. Er habe, wie er im Gespräch mit Debrabandère berichtet, nach und nach herausgefunden, wie massiv der Mangel an Pflegekräften in Frankreich ist. Dafür macht er vor allem die französische Sozialpolitik unter Emmanuel Macron verantwortlich.
Die Übersetzerin und der Vorleser
Debrabandère übersetzt das Gesagte für all diejenigen, die der französischen Sprache nicht mächtig sind, auf Deutsch. Das läuft so ab, dass sie eine zumeist vorbereitete Frage an Eribon stellt und während er diese beantwortet, sich Notizen macht, um sie anschließend – faszinierend wortgetreu – für das Publikum zu übersetzen. Dadurch, dass Eribon sehr redselig ist, muss Debrabandère ihn oftmals bremsen, um mit der Übersetzung hinterherzukommen. Ihr gespielt verzweifeltes »Stopp!« bringt das interessierte Publikum sehr zum Lachen.
Neben Debrabandère und Eribon sitzt mit Reinartz ein Schauspieler, der sein Handwerk versteht. Reinartz liest mit seiner sonoren Stimme einige Romanpassagen vor, die einen guten Einblick in den Roman geben und Abwechslung in das Gespräch zwischen Eribon und Debrabandère bringen. Dabei stellt er sich nicht in den Vordergrund und man merkt anhand Eribons Reaktion, dass dieser von Reinartz Vortragsweise sehr angetan und beeindruckt ist.
Am Ende des Abends gibt es viel Applaus für alle Beteiligten. Der Einblick in das französische Gesundheitssystem und die persönlichen Schilderungen aus Eribons Familienleben waren sehr gelungen. Eribons Idee, ein Sprachrohr für die ältere Generation zu sein, dient als Aufruf an die Gesellschaft, den Hilfsbedürftigen und Alten mehr Beachtung zu schenken und auf deren Bedürfnisse einzugehen. Nach der Lesung gibt es die Möglichkeit Eribons Bücher zu kaufen und sie sich vom Autor signieren zu lassen.