Kino und Schuld

Der Göttinger Literaturherbst 2023 eröffnet mit zwei ›Urgesteinen‹ des Festivals: Heinrich Detering und Daniel Kehlmann besprechen Kehlmanns neuen Roman Lichtspiel. Ein erfüllter Abend, der das Publikum begeistert.

Von Simon Gottwald

Bild: Dietrich Kühne

Seit er 2005 mit Die Vermessung der Welt sein Literaturherbst-Debüt gab, hält Daniel Kehlmann dem Festival die Treue: Mit jedem neuen Buch war er in Göttingen, erklärt Johannes-Peter Herberhold, Geschäftsführer des Göttinger Literaturherbstes, zur Begrüßung in der St. Johannis-Kirche. Auch sein neuer Roman Lichtspiel, die Geschichte des in den USA scheiternden und nach Deutschland zurückkehrenden, sich in den Fängen des NS-Regimes verwickelnden Regisseurs G. W. Pabst, ist für Kehlmann ein Anlass, Göttingen im Herbst zu besuchen. Ihm zur Seite sitzt mit Heinrich Detering ein weiterer Gast mit langer Literaturherbst-Geschichte; das Format ist dieses Mal ein anderes als bei Kehlmanns letztem Literaturherbst-Besuch 2017, als er aus seinem damals neuen Roman Tyll las.

Wurde 2017 ausschließlich vorgelesen, werden dieses Mal die Lesungen aus zwei Kapiteln von Lichtspiel kontrapunktiert von drei aufschlussreichen Gesprächen Kehlmanns und Deterings. Dabei geht es um die Verbindung von Film und Literatur (in Deutschland, so Kehlmann, durch die Filmförderung ausgeprägter als in den USA), den Entstehungsprozess von Lichtspiel, den Einfluss von Kehlmanns Tätigkeit für das Fernsehen und seiner dramatischen Texte auf seine Art des Schreibens und die Wahl des Sujets für seinen neuen Roman.

Es geht auch um Kehlmanns Aneignung historischer Stoffe, die ihm gelegentlich den Vorwurf von Ungenauigkeit einbrachte – Kehlmann erklärt, dass es sich hier in gewisser Weise um ein Missverständnis handle, er sich nicht etwa auf die ›echten‹ historischen Personen beziehe, sondern sie wie Theaterrollen verwende, denen auch Handlungen zugeschrieben werden könnten, die erwiesenermaßen nicht die ihrer realen Pendants sind.

Im Falle Pabsts, der sich der Ressourcen des NS-Regimes bediente, um Filme zu drehen, handelt es sich um den von Kehlmann ausgedachten Einsatz von KZ-Häftlingen als Komparsen für einen Film (etwas, das, wie Heinrich Detering anmerkt, Leni Riefenstahl tatsächlich getan hat). Dieser fiktive Film stürzt den Leser in eine gewisse Ambivalenz, denn das mutmaßlich große Kunstwerk geht verloren. Pabst hat mit dem Einsatz von KZ-Häftlingen eine rote Linie überschritten, aber auf den Film wäre man doch neugierig gewesen – einerseits, meint Kehlmann, dürfe Kunst keine »allzu großen moralischen Kompromisse« eingehen, andererseits aber sei man an dem Ergebnis interessiert, falls sie es doch tue.
Pabsts Schuld sei deswegen so ambivalent erzählbar, weil er sich, so Detering, nicht bewusst entscheide, Böses zu tun – er rutsche mehr oder weniger in die Verhältnisse hinein und arrangiere sich mit ihnen.

Daniel Kehlmann ist ein versierter Erzähler und ein versierter Vorleser, so dass es nicht verwundert, dass das Publikum wie gebannt zuhört, als er Pabsts Rückkehr nach Deutschland schildert oder dessen Begegnung mit Joseph Goebbels, der ihn auf perfide Weise zwingt, sich dem verbrecherischen Regime anzudienen. Dem ersten Eindruck nach ist Lichtspiel ein sehr starker Roman, und auffällig viele Exemplare des Buches wandern nach der Lesung in den Armen ihrer neuen Besitzer:innen zum Autor, der unermüdlich signiert. Falls der Göttinger Literaturherbst das Niveau seiner Eröffnungsveranstaltung halten kann, wird dieses Literaturfestival eines, das in Erinnerung bleibt.

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