Die Aufführung »Fragmente der Zärtlichkeit« im Deutschen Theater Göttingen konfrontiert das Publikum auf bedrückende Weise mit dem Leben in Armut. Es basiert auf Édouard Louis’ schonungslos intimen Romanen Die Freiheit einer Frau und Wer hat meinen Vater umgebracht.
Von Fabian Vogel
Bild: Lenja Kempf, Bearbeitung: Lisa E. Binder und Svenja Brand
Der anfängliche Eindruck lässt bereits staunen: kein aufwendiges Bühnenbild, keinerlei sichtbare Requisiten. Einzig ein durch dünne Schnüre abgetrennter Raum. Was hat sich die Regie des Deutschen Theaters Göttingen hierbei gedacht, wofür steht diese Kulisse zu »Fragmente der Zärtlichkeit«? Schon im ersten Akt erfahren die Zuschauer:innen: Die Idee zu diesem besonderen Bühnenbild, als ein leerer Raum beziehungsweise weites Feld verstanden, stammt tatsächlich im Original von Édouard Louis. Es soll die soziale Isolation beziehungsweise gesellschaftliche Abgeschiedenheit seiner Herkunftsfamilie symbolisieren.
Édouard (Eddy), in den Romanen zugleich Ich-Erzähler und Autor, kommt in »Fragmente der Zärtlichkeit« eine Schlüsselrolle zu: Er fungiert als neugieriger Erkunder seiner eigenen Familiengeschichte. Dafür bewegt er sich beinahe mühelos zwischen den Rollen als verspielter Sohn und akademischer Soziologe – wahrlich eine grandiose schauspielerische Leistung von Moritz Schulze. Doch fühlt Édouard gerade auch deswegen eine innere Zerrissenheit: »Bin ich nun selbst zu einem Körper der privilegierten Klasse geworden, die ich einst selbst hasste?« Diese wahrgenommene Entfremdung vom prekären, bildungsfernen Elternhaus steht wohl geradezu sinnbildlich für bestehende gesellschaftliche Klassenhierarchien.
Schonungsloses Erkunden
Insgesamt brilliert das Stück gerade darin, zwei Erzählebenen miteinander in Beziehung zu setzen, sich abwechseln zu lassen. So fragt Eddy von Beginn an gezielt nach einschneidenden biografischen Erlebnissen seiner Eltern – sie sind übrigens die einzig anderen Charaktere der Aufführung. Um dem Publikum deren persönliches Geworden-Sein zur Schau zu stellen, spart er hierfür nicht an intimen Fragen. Er wird seine Eltern fortan immer wieder zum Reden drängen. Eingängige soziologische Ergänzungen – die zweite Erzählebene – verdeutlichen schließlich überzeugend: Die Lebensverläufe von Edouards Mutter und Vater sind keinesfalls singulär zu begreifen. Stattdessen stehen nicht nur deren einstige Berufswünsche, etwa Köchin zu werden, sondern auch deren erfahrene Schicksalsschläge symptomatisch für das Leben der Arbeiter:innenklasse.
Reihe Klasse?!
Was ist das, eine Klasse? Haben wir alle eine? Wie prägen Klassen und Ideen von Klassen unseren Gesellschaften und den Umgang miteinander? Wie stellt man sie dar? Und wie können wir uns dazu verhalten? In dieser Reihe machen sich die Autor:innen Gedanken über gegenwärtige Gesichter von Klasse und Klassismus. Sie entwickeln sie beispielsweise anhand von literarischen Texten oder Sachbüchern, im Theater, als Forschende und persönlich. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.
Die Mutter reagiert von vornherein redselig, wenngleich auch ein wenig überfordert auf Édouards penetrante Erzählaufforderungen: frühe Eheschließung, Schwangerschaft, Scheidung, und wiederum Eheschließung. Klingt überhaupt nicht nach der Freiheit einer Frau, wie Édouard plötzlich deprimiert feststellt. Und genau dies vermittelt auch ihr geducktes Auftreten samt ängstlichem Gesichtsausdruck, das sowohl patriarchale als auch klassistische Unterwerfung nahelegt. Dazu reagiert sie ziemlich beschämt auf den plötzlich erlittenen Freundschaftsabbruch zu einer Frau aus der Verwaltung – womöglich ein Signum ihrer wahrgenommenen Klassenunterlegenheit? Kaum ein Wort dagegen des mürrischen Vaters, der gerade anfänglich eine hintergründige Figur abgibt. Von dessen Lebensgeschichte erfährt das Publikum vornehmlich anhand nostalgischer Überlieferungen aus dem Mund von Édouards Mutter.
Totales Gebrochen-Sein
Dabei ist der Vater, nachdem er sich jahrelang in der Fabrik verdinglicht hat, körperlich sichtlich gebrochen – Marco Matthes’ Inszenierung eines geschundenen Arbeiters wirkt sehr authentisch. So kauert er die meiste Zeit abseits von Eddy und dessen Mutter auf der Bühne und starrt apathisch in die Ferne. Sein abgewetztes Sakko, das noch dazu etwas zu groß erscheint, symbolisiert sein wohl größtes Bedürfnis: gesellschaftlich anerkannt zu werden, das Stigma der eigenen Armut kaschieren, nicht weiter auffallen. Wahrlich eine Herausforderung, sich ebendiesen entkräfteten Körper als lebensfrohen jungen Mann vorzustellen, wie es die euphorischen Schilderungen von Eddys Mutter nahelegen.
Außerdem hörbar: des Vaters Schreie der Verzweiflung und Ohnmacht bezüglich der eigenen Lebenssituation – gezielt eingesetzt, nur einige wenige Male demonstriert und somit keinesfalls übertrieben. Édouard und seine Mutter weichen in solchen Augenblicken verschreckt zur Seite; das Publikum tut es ihnen gleich, während es das Ausmaß der Frustration förmlich durch die eigenen Ohren sausen hört und Mitgefühl für den Vater empfindet. Mit Ausnahme ebendieser Schreie handelt es sich jedoch um eine eher ruhige Aufführung, was deren ergreifender Dramatik jedoch keinesfalls abträglich ist.
Das Desinteresse des Vaters an der Existenz seines homosexuellen Sohnes ist ein weiteres trauriges Faktum von deren gemeinsamer Geschichte. »Ich geh mal eine rauchen« steht geradezu sinnbildlich für ebendiese ablehnende Haltung. Anhand derartiger Konflikte, ebenso wie dem Umgang mit folgenschweren Schicksalsschlägen – Arbeitsunfälle, Schwangerschaften, etc. – wird dem Publikum ersichtlich, inwiefern gesellschaftlich-bedingte Ohnmacht und Verzweiflung auf strukturelle Weise mit Queerfeindlichkeit und Misogynie in Zusammenhang stehen. So dienen Eddy wie auch dessen Mutter regelrecht als Wutentladestationen für den Vater – Momente des gemeinsamen Trauerns zur Schicksalsbewältigung sind dagegen ziemlich rar.
Befreiung vom Unglück
Und so charakterisiert das familiäre Miteinander, trotz vereinzelter liebevoller Annäherungsversuche – sie begrenzen sich primär auf die Beziehung zwischen Eddy und dessen Mutter – überwiegend Kälte und Gereiztheit. Dabei hätte das Unglück der Mutter, die als Hausfrau an die eigene Heimstätte gefesselt lebt, noch prägnanter ausgedrückt werden können – oder ist diese patriarchale Unterdrückung längst gewohnt, sodass sie sich kein schöneres Leben mehr vorstellen kann? Einer ihrer seltenen Glücksmomente, wofür Eddy bedauerlicherweise nur Scham empfindet, wird schließlich herzergreifend von einem Song der Scorpions untermalt. Überhaupt verleihen die wenigen musikalischen Einlagen dem Stück Kurzweiligkeit. Sie sorgen für wohltuende Auflockerungen einer ansonsten bedrückenden Inszenierung.
Dass sich Édouards Mutter letztlich doch noch vom heimischen Unglücksort emanzipiert, wird besonders an ihrer äußeren Erscheinung erkennbar: Sie ist nicht mehr länger verängstigt und klein. Stattdessen spricht sie nun selbstbewusst, geht aufrechter und wirkt gepflegter – eine tolle Charakterentwicklung, gespielt von Jenny Weichert. Der endgültige Vollzug der Trennung von Édouards Vater bedeutet für sie: eigenständig Entscheidungen treffen. So möchte sie fortan in Paris leben – die Freiheit einer Frau eben, wie Édouard frohlockt. Dass sie dennoch Angehörige einer unterlegenen Klasse bleibt, demonstriert nicht nur ihre Tätigkeit als Haushaltsgehilfin, sondern auch ihre schier grenzenlose Begeisterung für eine gemeinsame Zigarette mit einer erfolgreichen Künstlerin.
Politische Aussagekraft
Letztlich ist das Stück »Fragmente der Zärtlichkeit« unbedingt auch als eine politische Anklage zu verstehen. Das dramatische Schicksal von Édouards Eltern und deren Leben in prekären Verhältnissen ist – was die soziologischen Einordnungen einleuchtend verdeutlicht haben – kein Einzelfall, woraus sich beinahe notwendig die Forderung nach (sozial-)politischem Wandel ergibt. Ebendieser politische Charakter wird gerade im Schlussakt deutlich hörbar. Dort werden nämlich nicht nur (ehemalige) französische Präsidenten – Sarkozy, Hollande, Macron – für das Leid von Édouards Familie schuldig gesprochen, sondern in entschlossenem Tonfall gar eine Revolution der unterdrückten Arbeiter:innenklasse herbeigesehnt.
Damit gelingt der Inszenierung »Fragmente der Zärtlichkeit« schließlich eine meisterhafte Verknüpfung Édouard Louis’ preisgekrönter Bücher Wer hat meinen Vater umgebracht und Die Freiheit einer Frau. Deren wesentlicher Gehalt, nämlich die gesellschafts-politischen Dimensionen der erschütterten Biografien von Eddys Eltern, werden gerade auch wegen der ergreifenden schauspielerischen Leistungen deutlich erkennbar. Und obwohl das Stück kaum utopische Züge trägt, scheint ihm gerade wegen seiner differenzierten Abbildung prekärer Lebensverhältnisse tatsächlich ein tieferer Wahrheitsgehalt anzugehören: Die zugemuteten Erniedrigungen und Beschämungen sind neben den ökonomischen Miseren die wohl schlimmsten Übel kapitalistischer Klassengesellschaften.
Ich habe das Theaterstück auch gesehen, wirklich tiefgehend!
Tolle Zusammenfassung und Rezension! sehr treffend auf den Punkt gebracht!