Im Literaturhaus Göttingen treffen am Donnerstagabend mit Charlotte Wiedemann und Max Czollek zwei schwergewichtige Stimmen des gegenwärtigen Erinnerungsdiskurses in Deutschland aufeinander – mit diametral verschiedener Geistesauffassung. So entwickelt sich die Lesung zu einem regelrechten Schlagabtausch, der jedoch noch besser hätte moderiert werden können.
Von Fabian Vogel
Bild: Literarisches Zentrum Göttingen
Trotz warmen, frühsommerhaften Wetterbedingungen platzt der dunkle Saal des Literaturhauses Göttingen am Donnerstagabend beinahe aus allen Nähten – die Stuhlreihen restlos von erwartungsfrohen Zuschauer:innen besetzt, und vorne, auf dem Podium, schwitzen die beiden Gäste Charlotte Wiedemann und Max Czollek im Lichte der hellen Scheinwerfer bereits vor Beginn der Veranstaltung. Das Thema dieses Abends, der den Namen »Anders erinnern« trägt und von Sabine Hess moderiert wird, verspricht alles andere als leichte Kost: Erinnerungskultur in Deutschland. Ein brisantes Thema vor dem Hintergrund der deutschen Menschheitsverbrechen.
Zweifel und Zorn
Schon in den anfänglichen Minuten, während sich Max Czollek erstmals seinem Buch Versöhnungstheater widmet und Charlotte Wiedemann aus Den Schmerz der Anderen begreifen liest, wird den Zuschauer:innen klar: Wohl nicht nur die Bücher der beiden Gäste unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht; auch deren Auftreten auf dem Podium könnte kaum unterschiedlicher ausfallen. So trägt Max Czollek, mit Cap und in schwarzer Bomberjacke gekleidet und landläufig insbesondere als Lyriker bekannt, selbstbewusst-zornig vor, inwiefern die deutsche Erinnerungskultur seiner Auffassung nach zu einem Ensemble gehaltloser Rituale verkommen ist. Charlotte Wiedemann, eine ausgewiesene Auslands-Journalistin, tastet sich dagegen deutlich vorsichtiger an die Thematik des Abends heran – gerade ihren scharfsinnigen Einordnungen zu (kolonialen) Menschheitsverbrechen ist dies jedoch keinesfalls abträglich, sie lassen das Publikum regelrecht schaudern.
Und so kühlt das anfänglich sehr herzlich wirkende Verhältnis zwischen den beiden Gästen doch ziemlich rasch ab – erkennbar auch an deren zunehmender physischer Distanz auf dem Podium. Sie diskutieren, oftmals allerdings ohne eine gemeinsame Sprache zu finden, die Bedeutung symbolischer Gesten sowie das Streben nach Anerkennung erfahrenen Leids – Wiedemann rekurriert hierzu immer wieder auf koloniale Brutalität in Ländern des globalen Südens. Czollek scheint mit der symbolischen Ebene des Erinnerns und Gedenkens allein jedoch nichts anfangen zu können: »Erst beim Geld wird es wirklich interessant!« Und so dämmert dem Publikum nun immer deutlicher, dass Charlotte Wiedemann und Max Czollek doch aus gänzlich verschiedenen Positionen heraus Stellung beziehen: erstere als zivilgesellschaftlich-engagierte Person, deren Anliegen die Sicht- und Hörbarmachung des erlittenen Schmerzes diverser Opfergruppen ist; letzterer als radikaler Systemkritiker, für den die deutsche Erinnerungskultur längst gänzlich fehlgeleitet ist.
Seltenes Übereinstimmen
Das Publikum lauscht den beiden Diskutant:innen neugierig und aufmerksam – teils auch mit Erstaunen, was sich in plötzlichem Raunen artikuliert. Dabei lässt sich Max Czolleks wesentliche Kritik am Status quo der Erinnerungskultur in Deutschland wohl folgendermaßen beschreiben: Die Erinnerung an die Shoah, ursprünglich Anliegen einer Zivilgesellschaft, wurde »enteignet«, nämlich vom Staat selbst – gerade auch deswegen spricht Czollek von einem Verkommen der Rituale zu gehaltlosen Praxen. Dabei scheint die gegenwärtige deutsche Gesellschaft seiner Auffassung nach von einer Sehnsucht getrieben, mit der NS-Vergangenheit endlich abschließen zu können. Der Begriff des Versöhnungstheaters betont schließlich die Gleichzeitigkeit eines entkernten Erinnerns und Nicht-Gedenkens an die Opfer der Shoah – dazu auch die Idee des »Containments«: Gedenktafeln und Stolpersteine inmitten von Lebenssphären, die doch seltsam unberührt von der grauenvollen deutschen Vergangenheit erstrahlen.
Ebendieser Kritik kann Charlotte Wiedemann nur bedingt zustimmen. Oft reagiert sie regelrecht irritiert auf Czolleks Ausführungen – und ebendiesem Unbehagen verschafft sie meist schnell Luft. So erwähnt sie, quasi als Zeitzeugin, Willy Brands Kniefall in Warschau sowie Richard von Weizsäckers Rede zum »Tag der Befreiung« 1985 – ihrer Auffassung nach wahre Meilensteine des Erinnerns und Gedenkens der Nazi-Gräueltaten, in einer Phase der Bundesrepublik, als sich einige CDU-Politiker noch immer schützend vor die Wehrmacht stellten. Mögen die unterschiedlichen Auffassungen der älteren Wiedemann vom jüngeren Czollek womöglich auch in deren Generationenunterschied begründet sein? Dass die Rede Richard von Weizsäckers retrospektiv, also aus heutiger Perspektive, durchaus seltsam klingt, gesteht Wiedemann letztlich noch ein – ohne aber eine Begründung zu liefern. Und plötzlich sind sich die beiden Gäste einig; wohl das erste Mal an diesem Abend.
Kein Erinnern ohne Empathie
Leider ist das Gespräch zwischen den beiden Gästen oft seltsam zerfahren. Und dies, obwohl die Moderatorin zumindest redlich bemüht wirkt, ihnen spannende Fragen zu stellen. Beim Thema der Empathie finden sie schließlich wieder zueinander, wenngleich durchaus missverständlich. So behauptet Wiedemann eher beiläufig, in einer Gesellschaft der Empathie-Ökonomie zu leben, wiederholt anschließend jedoch mehrmals, dass es für Empathie – unabhängig davon, ob diese nun Geflüchteten oder Opfern kolonialer Verbrechen gilt – doch eigentlich keine Grenzen geben sollte. Das Publikum quittiert diese Aussage mit zustimmendem Nicken. Und doch ist es auch etwas irritiert: Sind Wiedemanns Annahmen über die Empathie nun auf gesellschaftlicher Ebene anzusiedeln, oder doch eher auf individueller? Wünscht sie sich also eine breitere Öffentlichkeit, um (kolonialen) Gewaltverbrechen adäquat zu gedenken, oder doch eher mehr geschichts-reflektierte und emotional-berührbare Subjekte?
Jedenfalls scheint sie mit dem Ausdruck der Empathie einen Reiz Max Czolleks getroffen zu haben, als dieser klarstellt, dass individuelle Praktiken des Erinnerns und Gedenkens notwendigerweise auf Empathie angewiesen seien. Dafür liest er eine weitere Passage aus seinem Buch Versöhnungstheater, in dem es um Allianzen jüdischer und muslimischer Menschen in Deutschland geht, die sich nicht nur miteinander solidarisieren, sondern im Kampf für seelische und physische Unversehrtheit gar gemeinsam unterstützen wollen – Czollek beruft sich hierbei auf eine wahre Begebenheit: nämlich einen rassistisch-motivierten Anschlag in Deutschland auf eine Person mit Migrationsgeschichte. Dies ist auch insofern bemerkenswert, als dem wenig diversen, akademisch-biodeutschen Publikum im Literaturhaus dadurch vor Augen geführt wird: Die Gegenwartsgesellschaft besteht auch noch aus Menschen mit ganz anderen sozial-kulturellen Hintergründen, die obendrein noch immer alltäglichen Gefahren ausgesetzt sind.
Eine vielfältige Erinnerungskultur?
Dass dem Streitgespräch zwischen Charlotte Wiedemann und Max Czollek doch letztlich ein roter Faden fehlt, wird zuletzt beim Thema Postkolonialismus hörbar. Hierzu geriert sich erstere als Anwältin sämtlicher postkolonialen Stimmen. Sie zeigt sich nun auch deutlich kritisch gegenüber dem Status quo der deutschen Erinnerungskultur: Es gebe hierzulande noch immer Menschen, die ein gleichzeitiges Erinnern und Gedenken der Opfer der Shoah und derjenigen kolonialer Gewaltverbrechen kategorisch ausschließen. Diesen Auffassungen müsse entschieden entgegengetreten werden – wahrlich entschlossen und kämpferisch klingt Wiedemann in diesem Augenblick. Max Czollek weiß sich diesbezüglich nicht so recht zu positionieren. Er führt den vom australischen Historiker Dirk Moses losgetretenen »neuen Historikerstreit« an, präsentiert sich dabei jedoch zerrissen ob dessen eigentlicher Thesen. Und so plätschert das Gespräch der beiden Gäste fortan immer schneller dem Ende entgegen, während sich das gebannte Publikum nun selbst einigermaßen verlegen Schweißperlen aus dem Gesicht streicht – endlich Zeit zum Durchschnaufen.