Kapitalismuskritik für Grundschulkinder?

Die YouTuber Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt sind unter anderem durch ihren gemeinsamen Kanal und Podcast Wohlstand für alle bekannt geworden. Neben ihrer Tätigkeit als Webvideoproduzenten, Autoren und Journalisten machen die beiden Marx’ Kapital nun einer ganz neuen Zielgruppe zugänglich: Kindern im Alter von neun bis elf Jahren (und Erwachsenen, denen Marx ein bisschen zu trocken ist).

Von Lara Müller

Bild: Via Pixabay, CC0

Das Buch Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut beginnt mit Karls Traum von einem riesigen, hölzernen Gefährt, das alles verschlingt, was sich ihm in den Weg stellt und nicht mehr aufzuhalten ist. Es fährt wie von allein; sein goldener Thron ist leer. Ob es sich dabei um den Juggernaut handelt, den schon Marx als Metapher für das gesichtslose und doch unentrinnbare Kapital gebraucht hat? Das müssen Karl und seine Adoptivschwester Rosa erst noch herausfinden. Beide sind sich aber bereits ohne Vorwissen politisch-ökonomischer Zusammenhänge darüber einig: Dieser Traum kann nichts Gutes verheißen.

Feudalia, Capitalia und die Brücke dazwischen

Die beiden jungen Geschwister leben in Feudalia, einem Land das von seinem – Überraschung! – feudalistischen System geprägt ist. Karl ist vorsichtig und zurückhaltend, Rosa ist stürmisch und entschlossen. Beide sind sehr schlau. Als sie eines Tages wie immer im Wald Leseholz auflesen wollen, bemerken sie ein Schild: »Holzsammeln ab sofort verboten! Holzdiebe werden hart bestraft. Dieser Waldabschnitt ist verkauft!« Die Kinder sind verwirrt und kehren nach Hause zurück, wo die Entrüstung groß ist: Schon ihre Eltern und deren Eltern hätten im Wald immer Leseholz gesammelt! Das Dorf sei auf diese Praktik angewiesen, um den Winter zu überstehen!

Unterdessen verbreitet sich die Neuigkeit des Verkaufs der Waldgrundstücke wie ein Lauffeuer. Zu Scharen strömen die Menschen in Feudalias einzige Stadt, in der die Königin residiert. Prompt teilt sie ihnen mit: Es sei eine Brücke zum Nachbarland Capitalia gebaut worden, wo der Volkswohlstand viel höher und der Fortschritt viel weiter sei. Capitalianische Unternehmer hätten nun die Wälder in Feudalia zu großen Teilen aufgekauft. Beschweren müssten sich die Leute trotzdem nicht, denn die Untertanen Feudalias würden ohnehin von ihren Hütten auf dem Land innerhalb kürzester Zeit in die Stadt umziehen müssen, bräuchten den Wald also gar nicht länger. Dass es sich dabei faktisch um eine Zwangsumsiedlung handelt, verschweigt die Königin natürlich. Kurz: Schmitt und Nymoen zeigen die Prozesse der Industrialisierung und der ursprünglichen Akkumulation am Beispiel von Feudalia – wenn auch etwas beschleunigt und vereinfacht. Außerdem erscheint die Darstellung dieser Vorgänge kinderfreundlicher und damit weniger gewaltsam als sie historisch gewesen sind. Als die kleine Familie für ihren letzten Sommer nach Hause zurückkehrt, beschließt Rosa aus Protest Holz aus dem Wald zu holen: Die kleinen Holzdiebe waren geboren.

»Klauen?«, fragte Karl beinahe erschrocken.          
»Nein, nicht klauen, sondern sammeln«, korrigierte Rosa ihn trotzig. »Findest du es nicht auch verrückt, dass heute plötzlich das Diebstahl genannt wird, was vorgestern noch erlaubt war?«

Rebellen und Visionäre

Dass die beiden Protagonist:innen, genau wie ihre Vorbilder Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, eine rebellische Ader haben, sollte spätestens jetzt klar sein. Karl und Rosa lassen sich nicht unterbuttern, auch nicht, als ihre Eltern in stinkenden Fabriken arbeiten und die Familie trotzdem hungern muss. Als sich ihre Lebensbedingungen immer weiter verschlechtern und sich die Holzdiebe wieder in den Wald aufmachen, um ihrer Lieblingstätigkeit nachzugehen, wird Rosa ins Arbeitshaus verfrachtet. Eine waghalsige Rettungsaktion beginnt. Erst um Rosas Willen und später sogar landesweit, um die Arbeiterschaft aus den ausbeuterischen Klauen der Unternehmer zu befreien. Karl und Rosa zeigen den Lesenden, was es heißt, auch angesichts großer Ungerechtigkeit für sich und seine Mitmenschen einzustehen.

Die kleinen Holzdiebe behandelt eine Vielzahl an Themen rund um Arbeit, Volkswirtschaft und Kapitalismus auf einem Niveau, das auch Grundschulkindern verständlich sein sollte. Begriffe wie ›Mehrarbeit‹, ›Präsident‹, ›Streik‹ und schließlich ›Kapital‹ werden in einfachen Sätzen erklärt und in eine akkurate Repräsentation des Wirtschaftssystems integriert. Dabei kommen auch Erwachsene auf ihre Kosten, denn Nymoen und Schmitt verstehen sich darauf, die komplexen Zusammenhänge der Marktwirtschaft kompromisslos in ihrer Vielschichtigkeit zu präsentieren. Dabei wird deutlich, wie ein:e jede:r alltäglich von ökonomischen Makrostrukturen betroffen ist.

Sachbuch oder Unterhaltungsliteratur?

Bei einer solchen Fülle an theoretischen Konzepten auf etwas mehr als 250 Seiten ist es kein Wunder, dass auch ein paar Dinge zu kurz kommen müssen. So kann die Geschichte rund um Rosa und Karl nie wirklich Fahrt aufnehmen und Spannung aufbauen – die Betonung liegt zu sehr auf der expliziten Wirtschaftskritik. So auch, als Karl beschließt, sich heimlich in Capitalia einzuschleusen, um Rosa aus dem Arbeitshaus zu retten. Action sucht man hier vergeblich, stattdessen stehen die Vorträge des alten Karl, den der junge Karl auf seiner Reise trifft, über die Eigenschaften des Kapitals im Vordergrund: »Das Kapital ist die mächtigste Macht, musst du wissen, Karl. Mächtiger als der Präsident und sogar mächtiger als die Königin ist das Kapital. Ich will dir erklären, was ich damit meine.« Der alte Karl erinnert nicht nur wegen seiner Weisheit und seinem weißen Rauschebart an den echten Karl Marx. Nein, das Bild wird erst komplett, als er dem jungen Karl von seinem besten Freund erzählt, der Fabrikbesitzer und trotzdem für eine Kritik der politischen Ökonomie offen ist.

Ole Nymoen, Wolfgang M. SchmittDie kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut
Illustriert von Nick-Martin Sternitzke
Insel Verlag: 2024
268 Seiten, 18 €

Selbiges gilt für die Charakterisierung der Figuren. Wichtig für die Handlung sind ausnahmslos Karl und Rosa. Selbst ihre Eltern stellen lediglich bedeutungslose Randfiguren dar, die nur in rudimentären Zügen beschrieben werden. Zwar weisen ein paar wiederkehrende Gesichter einige liebenswerte Eigenschaften auf, wie etwa die Königin, die dazu neigt, die Anfangsbuchstaben zweier Wörter zu vertauschen – für eine umfassendere Charakterisierung, wie man sie aus Kinderbüchern ähnlicher Länge gewohnt ist, reicht dies allerdings keinesfalls. Deshalb erscheint Die kleinen Holzdiebe an manchen Stellen eher wie ein Sachbuch als wie Belletristik: Es wirkt so, als würde der gesamte Überbau mit Karls und Rosas Geschichte nur als performativer Deckmantel für die darunterliegende Basis der Kapitalismuskritik fungieren.

Für geduldige Eltern und clevere Kinder

Am Ende macht es dennoch Spaß, Die kleinen Holzdiebe zu lesen. Das liegt schon allein an der Idee: Kapitalismuskritik für Grundschulkinder. Ein schwieriges Unterfangen, das Nymoen und Schmitt zweifelsfrei gelungen ist. Auch die liebenswürdigen Illustrationen von Nick-Martin Sternitzke tragen ihren Teil dazu bei, indem sie das dröge Thema durch schrullige Darstellungen der Buchfiguren aufweichen. Das Kinderbuch beweist ein ums andere Mal, dass seine Lesenden, egal welchen Alters und Bildungsstandes, etwas aus seiner Lektüre mitnehmen können. Die Frage, ob sich Die kleinen Holzdiebe als Gute-Nacht-Lektüre eignet, muss aufgrund seiner Komplexität vermutlich verneint werden. Für Familien mit geduldigen Eltern, deren Kinder so clevere Fragen stellen können wie Karl und Rosa, bietet die Kindergeschichte allerdings dennoch eine gute Einführung ins (kapitalismus-)kritische Denken.

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