Kampf für die Zukunft

Marjane Satrapi hat mit Frau, Leben, Freiheit Unterstützer:innen der Revolution in Iran zusammengebracht. Die Graphic Novel führt ihre Lese:innen durch die Ereignisse der Revolution seit dem Tod von Jina Mahsa Amini und die Geschichte und Kultur von Iran.

Von Lisa Hoffmeister

Bild: »Jin Jiyan Azadî: kurdisch für ›Frauen, Leben, Freiheit‹. Wandmalerei in der Schwendergasse in Rudolfsheim-Fünfhaus, Wien. Kurdische Frauenkombatantin der Künstlerin Btoy nach einem Foto von Maryam Ashrafi«. Herzi Pinki – Own work, CC BY-SA 4.0 (Ausschnitt; Reduktion der Bildgröße. Bildbeschreibung leicht verändert nach Herzi Pinki)

Es ist schwierig, den politisch-gesellschaftlichen Konflikt in Iran zu verstehen. Diesem Verständnisproblem begegnet die von Marjane Satrapi herausgegebene Graphic Novel Frau, Leben, Freiheit, veröffentlicht im Rowohlt Verlag und übersetzt von Hainer Kober, Regina Keil-Sagawe und Sarah Pasquay. Das französische Original erschien 2023 unter dem Titel Femme, Vie, Liberté bei Editions de L’Iconoclaste.

Expertise und künstlerische Vielstimmigkeit

Das Buch flicht einen roten Faden durch die Geschichte von Iran und der Revolution seit dem Tod von Jina Mahsa Amini. Marjane Satrapi hat für ihre Graphic Novel drei Iran-Expert:innen und siebzehn Illustrator:innen aus Iran, Frankreich, Amerika, Spanien, Kanada und den Niederlanden zusammengebracht. In drei Teilen mit mehreren Unterkapiteln werden die Ereignisse in Iran, die Geschichte des Landes und der Widerstand des Volkes dargestellt und erläutert. Zum Schluss diskutiert Marjane Satrapi mit drei Expert*innen über eine realistisch mögliche Zukunft für Iran und alle Menschen, die sich dort zuhause fühlen. Zwischen den einzelnen Kapiteln befinden sich in einheitlichem Stil gehaltene Doppelseiten, die die einzelnen Kapitel voneinander trennen, aber auch optisch einen roten Faden durch das Buch ziehen.

Die einzelnen Kapitel sind ein Zusammenspiel von Textbausteinen und Illustration. Dort bringt sich jede:r Künstler:in in die Gestaltung ein, sodass Schriftart, Zeichenstil und Farbigkeit in jedem Kapitel unterschiedlich sind. Einerseits ist es vielstimmig, andererseits wird in diesem Buch aus vielen Stimmen eine. Es wird deutlich: Die Graphic Novel ist das Projekt einer Gemeinschaft. Bei der künstlerischen Umsetzung dominieren im Allgemeinen die Farben Weiß, Schwarz und Rot, sodass die unterschiedlichen Stile der Künstler*innen durch die Farbgebung zusammengeführt werden.

Das Thema wird in gut verarbeitbare Abschnitte heruntergebrochen, die mithilfe von ausdrucksstarken Illustrationen ihre Botschaft vermitteln. Eine begrenzte und doch starke Farbpalette und sehr emotionale Gesichtsausdrücke der illustrierten Menschen in dem Buch vermitteln den Kampf der Revolutionär:innen und Iraner:innen für eine bessere Zukunft, ihren Schmerz über mangelnde Freiheiten und ihre Sorgen um Freunde, Familie und die iranische Lebenswelt. Aber auch ihre Freude über Solidarität und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Nicht nur die grafische Gestaltung ist leicht zugänglich. Auch persische Wörter, Slogans, Sitten und Kultur werden erklärt. Mit einfachen Worten wie »Zwei Frauen sagen Nein« und Bildern vermitteln die Autor:innen und Illustrator:innen komplexe Inhalte.

Der Aufbau der Graphic Novel

Das Buch ist dreigeteilt: Zunächst erläutert es die aktuellen Ereignisse in Iran. Dann »ein wenig Geschichte«, um die Hintergründe zu den politisch-revolutionären Ereignissen zu verstehen. Zuletzt portraitiert es »ein Volk, das sich wehrt«.

Die Ereignisse

Marjane Satrapi (Hrsg.):
Frau, Leben, Freiheit.

Übersetzt von Hainer Kober, Regina Keil-Sagawe, Sarah Pasquay.
Rowohlt Verlag: Hamburg 2023
272 Seiten, 34,00 €

Am 16. September 2022 wurde Jina Mahsa Amini wegen des Tragens eines angeblich schlechtsitzenden Kopftuches von der Sittenpolizei Irans so stark auf den Kopf geschlagen, dass sie eine Schädelfraktur erlitt und nach einem dreitägigen Koma verstarb. Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Revolution auslöste. Seitdem gehen Iraner:innen mit dem Slogan »Frau, Leben, Freiheit« und der Hymne »Baraye« (dt. »für/wegen«) auf die Straße, um gegen die korrupte, freiheitsbeschränkende und gewalttätige Regierung zu protestieren. Viele Iraner:innen werden im Zuge dessen von den Handlangern der Regierung gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Die Ereignisse werden in der Graphic Novel faktisch richtig genannt und in kleine verarbeitbare Abschnitte unterteilt, in denen das Zusammenspiel von Bild und Text die verschiedenen Inhalte vermittelt. Je nachdem, wie es gerade sinnvoll ist, gibt es mal mehr Text und mal mehr Bilder. Die Zusammenfassung der Geschehnisse in den drei Revolutionen beispielsweise hat einen mehrseitigen durchgängigen Fließtext, da hier viele Fakten genannt werden müssen. Die Darstellung der Kunst der Revolte hingegen besteht fast nur aus Bildern, die zeigen, wie die Menschen gegen das Regime aufbegehren.

Ein wenig Geschichte

Wie funktioniert Iran? Dieser Frage widmet sich der zweite Teil aus einer historisch-politischen Perspektive. Die Iraner:innen haben im letzten Jahrhundert viele Revolutionen und politische Umbrüche erlebt. Der Religionsführer und faktische Herrscher, Ali Khamenei, regiert mithilfe der Sittenpolizei, dem Rat und der massiv gewalttätigen Armee der Wächter der Islamischen Revolution. Dazu nutzen sie Unterdrückung, Zensur, Haft, Drohungen, Tod und Gewalt. Aber natürlich hatten die Menschen in Iran in den letzten Jahrhunderten auch ein ganz normales Alltagsleben mit Arbeit, Freundschaft und Familienfesten. In diesem Teil der Graphic Novel wird besonders durch die Farbigkeit in den Unterkapiteln sowohl sehr negative als auch sehr positive Stimmung erzeugt. Bei der Beschreibung des friedlichen Familienfestes Nouruz zum Beispiel werden viele warme Gelb- und Orangetöne für die Illustration genutzt. Bei den Darstellungen der »gefürchtet[en] und gehassten« Wächter der Revolution ist der Hintergrund der Seiten komplett schwarz und das Blutvergießen der gewalttätigen Wächter wird durch sparsam und präzise eingesetzte rote Flächen deutlich gemacht.

Ein Volk, das sich wehrt

Menschen aus allen Regionen und sozialen Schichten Irans demonstrieren gegen das Regime. Die iranische Diaspora (aus Iran geflüchtete Menschen) sorgt im Rest der Welt für die Verbreitung der Ereignisse. Und die Frauen tun all die Dinge, die das Regime ihnen verbietet. Kein Kopftuch tragen, tanzen, arbeiten, Make-Up auftragen, singen, Sportveranstaltungen besuchen. Sie wollen nicht mehr von absurden Regeln eingeschränkt werden. Dieser Teil der Graphic Novel zeigt, welche Macht die kleinen Handlungen haben und wie wichtig jede einzelne für die Revolution ist. Dies wird besonders durch die leuchtend blaue Farbe auf den Seiten, die vom Blue Girl erzählen, deutlich. Das Blue Girl Sahar Khodayari hat sich in der Farbe ihres Lieblingsfußballvereins FC Esteghlal angemalt und sich verbotenerweise unter die Männer gemischt, die ein Spiel im Azadi-Stadion angesehen haben. Sicherheitskräfte entdeckten sie und sperrten sie ins Gefängnis. Sahar verstarb infolge einer Selbstverbrennung aus Protest gegen eine längere Gefängnisstrafe und machte so die ganze Fußballwelt auf die Situation in Iran aufmerksam.

Vermittlung und Protest

Durch die strukturierte Aufteilung der Graphic Novel wird es den Leser:innen leicht gemacht, sich mit den herausfordernden Themen zu befassen, ohne dass ein Gefühl der Überforderung eintritt. Wesentliche Bestandteile der Geschichte von Iran und der Revolution bekommen einen Platz. Durch die gewählte Gestaltungsform gewinnt das Buch die Möglichkeit, schwere Themen in leichter verdauliche, kurze Abschnitte zu verpacken und die Leser:innen die Botschaften durch Bilder erleben zu lassen. Die Graphic Novel ist eine große Bereicherung für die Bewegung »Frau, Leben, Freiheit«; ein tolles Buch, das informiert, aufklärt und die Welt motiviert, weiter für eine bessere Zukunftsvision für Iran zu kämpfen. Hinzu kommt: Es ist selbst eine zugängliche und überzeugende Protestaktion. Denn durch seine künstlerische Gestaltung rebelliert es gegen die Beschränkung von künstlerischer Freiheit in Iran.

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