Das Deutsche Theater adaptiert Kafkas Die Verwandlung als Horrorkomödie. Unter der Regie von Phillip Löhle wird hier das groteske Zusammenleben einer Familie mit einer riesigen Schabe auf die Bühne gebracht und mit viel Witz und Grusel ein einprägsames Erlebnis geboten.
Von Laslo Gitzel
Bilder: Thomas Müller
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Mit diesem Satz beginnt Franz Kafkas Die Verwandlung. Eine Geschichte über einen Mann, der plötzlich als riesiges Insekt aufwacht und dann auf tragische Weise erleben muss, wie seine Umwelt die neue Gestalt ablehnt. Und während ihm sein Umfeld immer weiter die Menschlichkeit abspricht, lebt er unglücklich vor sich hin, bis er schließlich verendet.
Ein Werk Kafkas, von dem man allerdings kaum erwarten würde, es als Stück auf der Bühne zu sehen, da es die Perspektive Gregor Samsas darstellt, in seinem kleinen Raum, immer mehr isoliert von der Familie. In der Inszenierung im Deutschen Theater Göttingen, geschrieben vom ebenfalls Regie führenden Philipp Löhle, erfahren wir die Geschichte hingegen aus der Perspektive der restlichen Familie Samsa. Gregor kriecht, abgesehen von einem Auftritt im Prolog, nur indirekt als echt wirkende Puppe über die Bühne. Das Stück wird in der gerade begonnenen Spielzeit erneut aufgenommen und ist ab dem 11. Oktober zu sehen.
Eine schreckliche Familie
Familie Samsa ist, nachdem der Vater sein Geschäft verloren hat, finanziell vollkommen abhängig von Sohn Gregor. Die eigene Arbeitsmoral entdecken seine Eltern und Schwester erst wieder, als Gregor, verwandelt in eine Schabe, seiner Tätigkeit nicht mehr nachgehen kann. Und vergessen prompt den Sohn, der ihnen all die Jahre aushalf, nur weil sie seinen Anblick als Tier nicht mehr ertragen. Sie verstecken ihn hinter einer Tür – aus Angst, er könnte ihrem Ansehen schaden.
Er wird als wertlos angesehen, sogar entmenschlicht. Die Familie bezeichnet die Kreatur irgendwann als Es. Als es stirbt, ist ihnen das egal. Keine Trauer. Sie haben entschieden, dass dieses Ding nicht mehr Gregor ist, sind froh, es und alle damit verbundenen Sorgen endlich los zu sein. Und während das Dienstmädchen im Hintergrund den toten Gregor in seine Einzelteile zerlegt und entsorgt, macht die Familie Reisepläne.
Der eigene Wert scheint hier vollständig an die Produktivität einer Person gekuppelt zu sein. Ab dem Moment, wo Gregor eine Last für die Familie wird, hat er in ihren Augen seinen Wert verloren. Da entsteht ein fader Beigeschmack, wenn das Publikum über das Zetern der Familie lacht und dabei vielleicht übersieht, was für schreckliche Personen sie eigentlich sind. Das mag daran liegen, dass der Glaube an Existenzberechtigung durch Arbeit inzwischen weit verbreitet zu sein scheint. In der realen Welt hätte Gregors übertriebene Produktivität ihn am Ende wohl in kein Insekt verwandelt, sondern ihm wahrscheinlich einen Burnout verschafft. Doch das Stück erinnert auch daran, dass jeder Mensch einen Wert allein durch seine Existenz hat.
Makabere Gratwanderung
Die Tür, hinter der sich in der Erzählung das so prägnante Zimmer und die grausige Gestalt Gregor Samsa verbergen, ist zentral ins Bühnenbild eingearbeitet. Wie eine eigene Figur steht diese Tür in der Mitte der Bühne. Das Publikum wird geplagt durch den Gedanken, welches Grauen sich dahinter verbergen mag. Doch der Body Horror bleibt meist vor den Augen der Zuschauer:innen verborgen. Angedeutet wird er nur durch Fühler und Beine, die aus der Tür hervorschnellen, und Schleim, der durchs Schlüsselloch quillt. Interessant wird dabei mit dem Unbekannten gespielt. Eine gewisse Faszination geht von dieser ominösen Tür aus, hinter der sich die Kreatur verbirgt.
Ein Bühnenbild wie für ein Insekt entworfen
Beim von Thomas Rump entworfenen Bühnenbild fallen große, am Bühnenrand verlegte Metallrohre auf, die clever benutzt werden, um Gregors Aussehen zu verschleiern. Aus den Klappen der Rohre kommen die Fühler des Insekts, um anzudeuten, dass es sich in Wänden und im Boden bewegt. Dies erhöht die Panik der Figuren, da Gregor von überall plötzlich auftauchen könnte. Ansonsten besteht das Bühnenbild aus antik wirkenden Möbeln, in die allerlei verspielte Mechanismen eingearbeitet sind. So kommt es vor, dass das Hausmädchen durch eine Kommode die Bühne verlässt oder eine Figur im Inneren einer großen Standuhr verschwindet.
Die alten Möbel passen zeitlich gut zum als Stummfilm aufgezogenen Opening, das die Vorgeschichte der Familie zeigt. Genauso aber auch zu den ebenfalls von Thomas Rump verantworteten Kostümen der Darsteller:innen, die mit bleich geschminkten Gesichtern, dunkel betonten Augen und absurden Frisuren direkt einem Film von Tim Burton entsprungen sein könnten. In absurden Momenten kann das zu Lachern führen, kehrt aber auch die grausamen Züge der Figuren nach außen, wenn diese schäbig mit Gregor umgehen.
Judith Strößenreuter als Grete bleibt besonders in Erinnerung. Zu Anfang noch kritisiert sie ihre Eltern für deren Verhalten Gregor gegenüber und versucht, ihrem Bruder die Situation erträglich zu machen, bevor sie irgendwann unter der Belastung bricht und ihn nicht mehr als Mensch ansehen kann. Eine Figur, mit der man zu Beginn sympathisiert, weil sie als einzige ihren Bruder nicht aufgegeben zu haben scheint – umso enttäuschter ist man, wenn sie das hinter sich lässt. Diesen inneren Konflikt und langsamen Wandel verkörpert Stößenreuter sehr überzeugend. Ansonsten sind es wie so häufig die Nebenfiguren, die die bedrückende Stimmung auflockern und an die man gerne zurückdenkt. Daniel Mühe und Florian Donath als Duo aus Arzt und Schlosser, oder auch im Trio mit Lukas Beeler als Untermieter, zeigen eine gute Chemie und komödiantisches Timing untereinander, sodass sie selbst nach den unheimlichsten Szenen das angespannte Publikum zu Lachen bewegen können.
Die Tragik mit Gelächter überspielen
Der Horrorkomödie gelingt es, die Zuschauenden gleichsam in Schrecken wie Gelächter zu versetzen. Wenn die Lichter sich verdunkeln und das monströse Schaben-Modell, das einst Gregor Samsa war, über die Bühne kriecht, aus Rohren und dem Holzboden seine Fühler hervorschnellen lässt, herrscht blanker Horror. Nur wenige Minuten später wird dieser durch die pfiffig geschriebenen Dialoge, die vor Witz und Charme nur so übersprühen, wieder aufgelockert.
Die Verwandlung ist als Theaterstück ein gelungener Mix aus Tragik und Humor. Witz geht bei der Inszenierung Hand in Hand mit Horror und Momenten, die dazu anregen, über den Wert des Menschen und seine gesellschaftliche Definition nachzudenken. Obwohl man vermutlich einiges zu lachen haben wird, sind es diese Gedanken, die eine:n über das Stück hinaus begleiten werden. Überzeugend gespielt mit einer tollen Einbindung des Bühnenbildes mit vielen kleinen amüsanten Kniffen zeigt das DT ein Werk, von dem es wohl die wenigsten für möglich halten würden, es überhaupt als Theaterstück zu adaptieren. Aber hier wirkt es so natürlich für die Bühne entworfen, als hätte es immer dort hingehört.
Vorstellungen von Die Verwandlung gibt es am 11.10, 16.10., 14.11., 30.11.2023 sowie am 04.02. und am 28.02.2024.