Ist das Kunst oder kann das weg?

Thomas Kunsts Zandschower Klinken ist ein Aussteiger-Roman der anderen Art. Er begibt sich auf einen schmalen Balanceakt zwischen Fantasie und Verwirrung, der eine:n die erzählte Realität des Romans hinterfragen lässt.

Von Saskia Menssen

Bild: Via Pixabay, CC0

Der Einband ist quietschgelb. Darauf schwimmt ein Plastikschwan auf einem See, überdacht von Palmenblättern. Bereits der Anblick des Covers von Zandschower Klinken von Thomas Kunst verrät, dass dieses Buch ungewöhnlich wird. Besonders der Klappentext macht Lust auf mehr, kündigt er doch eine skurrile Geschichte an.

Sie handelt von Claasen, der ein neues Leben anfangen möchte. Er steigt ins Auto und legt das Halsband seiner Hündin aufs Armaturenbrett. Dort, wo es herunterfällt, möchte er ein neues Leben beginnen. Das Halsband führt ihn nach Zandschow, ein abgelegenes Örtchen in Norddeutschland. Er mischt sich unter die Einwohner:innen und stellt schnell fest, dass das Leben dort anders ist. Sich mit der Abgeschiedenheit arrangierend befolgen sie einen strengen Wochenplan, der ihnen vorschreibt, Partnerschaften für Plastikschwäne zu übernehmen und andere skurrile Dinge zu tun.

Neugierig beginnt man zu lesen, nur um dann spätestens nach zehn Seiten völlig verwirrt zu sein. Denn je mehr man liest, desto mehr fragt man sich: Was lese ich hier überhaupt?

Die Sätze sind parataktisch und der allgemeine Erzählstil ist glatt, ohne ausschweifende Beschreibungen und daher leicht verständlich. Nicht der Schreibstil macht den Roman unzugänglich, sondern dessen Inhalt. Eigentlich alle Erwartungen, die der Klappentext schürt, werden gebrochen. Man erwartet Charaktere mit ihren Beziehungen und dazugehörige Konflikte, Höhen und Tiefen, also im Grunde einfach einen Plot. Doch den gibt es nicht.

Eine ungewöhnliche Erzählstruktur

Die Kapitel sind in Absätze unterteilt. Sie bilden abgeschlossene Einheiten, deren Inhalt oft nicht in Zusammenhang mit vorherigen Absätzen steht. Häufig gibt es nicht einmal einen Zusammenhang zwischen den Sätzen innerhalb eines Absatzes. Ein Beispiel:

Mein Schwesterchen schrieb mir, dass in Testsefliegen relativ wenig Zebra- oder Pinguinblut zu finden ist. Sie bevorzugen eintönige Oberflächen. Für Vater ist sie immer das Reh gewesen. Mein Taxi ist weiß. Keine Ahnung, wie lange ich diesen Showdown hier noch überlebe. Geographisch sollte bald alles möglich sein. Kaltkirchen, Afrika, Galerazamba. In Cartagena werden die Zebrastreifen auf der Avenida de Pedro De Heredia nie von streunenden Raubtieren oder von den Fliegen auf überfahrenen Kadavern angegriffen.

Der darauffolgende Absatz beginnt mit: »Mercado Bazurto, Elfter Juli. Papageienfische und rote Schnapper. An einem der Stände kaufte ich mir für zwanzigtausend Pesos ein Nationalmannschaftstrikot von Valderama mit der Rückennummer zehn.« 

Durch diese Zusammenhangslosigkeit wirkt das Geschriebene oft wie lose Gedankengänge. Claasen ist dabei kein zuverlässiger Erzähler. Seine Beschreibungen sind diffus und geradezu fantastisch. Einmal beschreibt er das Leben in Zandschow und dessen Einwohner:innen und plötzlich berichtet er davon, dass er selbst mal mit seiner Schwester, als sie noch Rehe waren, im Wald lebte. Auf einmal wird über mehrere Seiten erzählt, wie ein flaschenförmiger See in den Bergen entstanden ist, weil eine übergroße Flasche, die von einem Zeppelin transportiert wurde, dort auf die Erde aufschlug. Zusätzlich singt sie hin und wieder die Anfänge von »Fuchs du hast die Gans gestohlen«.

Als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, wechselt der Erzähler innerhalb des Buches zusätzlich in andere Perspektiven. Dialoge gibt es keine und aktive zwischenmenschliche Beziehungen sind ebenfalls nicht vorhanden. Manchmal erwähnt Claasen seine Schwester oder seinen Vater, aber was es mit ihnen auf sich hat, erfährt man nie. Nur mit den Einwohner:innen von Zandschow kommt es zu Interaktionen. Deren Aktivitäten sind unkonventionell. Sie simulieren Zugfahrten in einem verlassenen Baucontainer, setzen Plastikschwäne auf den Feuerlöschteich und übernehmen die Patenschaft für einen. Zwei Stunden lang ahmen sie die Bewegungen der Schwäne nach. Warum? Diese Frage wird nicht beantwortet. Genau das ist das Hauptproblem des Romans: Die Verwirrung hört nie auf.

Verwirrend… aber gut?

Eigentlich ist nichts gegen eine unkonventionelle »Handlung« und Erzählweise einzuwenden. Problematisch ist aber, dass sich das ganze Buch wie eine Aneinanderreihung von wirren Zuständen liest und dabei der Mehrwert zu fehlen scheint. Das Interesse am Erzählten geht dadurch verloren, dass es keinen Plot gibt. Man liest ein semizusammenhängendes Wirrwarr, in dem man vergeblich versucht, einen Sinn zu finden. Dadurch wird das Lesen nur frustrierend. Denn das Herumtheorisieren, worum es nun wirklich geht, ist nach der ersten Verwirrung spannend, wird aber schnell ermüdend. Jede Theorie, die man aufstellt, muss man am Ende verwerfen. Dafür ist das Erzählte nicht zusammenhängend genug, um wirklich etwas daraus zu ziehen.

Angenehm am Roman sind die Wiederholungen. Viele Sätze, sogar ganze Absätze, werden durch das ganze Buch hinweg wiederholt. Obwohl das zu Anfang sehr irritierend ist, sind sie das, was zum Weiterlesen anregt. Durch die ständigen Wiederholungen bekommt das Geschriebene einen Rhythmus, der eine Art hypnotischen Sog kreiert. Im sonstigen Wirrwarr sind sie eine willkommene Konstante. Sie prägt man sich besonders gut ein und bei jeder neuen Wiederholung lesen sie sich schneller und dynamischer, sodass es leicht fällt, dem »Beat« des Textes zu verfallen.

macbook

Thomas Kunst
Zandschower Klinken

Suhrkamp: Berlin 2021
254 Seiten, 22,00€

Abschließend kommt man nicht um die Frage herum, warum Zandschower Klinken für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Denn neben aller Kritik und Verwirrung muss man dem Roman zugestehen, dass er durchaus einen Unterhaltungswert hat. Der schlichte Erzählstil lässt die Lesenden nahe ans Geschehen. Alles lässt sich, so abwegig es auch sein mag, gut vorstellen. Das Leben in Zandschow wirkt lebendig und Thomas Kunst verleiht der Ortschaft eine ganz eigene Atmosphäre. Dazu lässt sich der Text wie Gedankenstränge lesen, die verschiedene Interpretationen zulassen. Vielleicht war gerade dieses Potential für verschiedene Lesarten Grund für die Nominierung.

Eine Theorie wäre zum Beispiel, dass Claasen dement ist. Er selbst erwähnt Demenzabteilungen in Krankenhäusern. Ist die ganze Geschichte also aus der Perspektive eines Demenzkranken erzählt? Das wäre ein interessanter Ansatz und würde die diffuse Erzählweise erklären, lässt sich aber nicht weiter belegen. Dafür ist das Buch zu undeutlich und zu viel anderes geschieht, das zu dieser Theorie nicht passt. Wenn von Rabowski erzählt wird, der paranoid ist, kaum das Haus verlässt und sogar Angst davor hat, im Wohnzimmer zu sein, weil seine Nachbarin ihn hören könnte, fragt man sich, ob das Buch nicht doch eher eine schräge Gesellschaftskritik sein soll. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie wandelbar Lesarten des Romans sein können.

Auch wenn die experimentelle Machart des Buchs zum Theoretisieren anregt, schadet sie auf Dauer dem Leseerlebnis. Durch die Wandelbarkeit und fehlende kohärente Handlung, fühlt sich das Lesen letztlich sinnlos an. Spaß am Buch können nur die haben, denen es nichts ausmacht, verwirrt zu werden und zu bleiben. Wenn das nicht der Fall sein sollte, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Zandschower Klinken eher zu einem anstrengenden Leseerlebnis wird.

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