Ist Blut dicker als Wasser?

Triggerwarnung

Der folgende Text enthält explizite Beschreibungen von häuslicher Gewalt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du sie zum Beispiel beim Frauen-Notruf Göttingen oder beim Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen unter 08000 116016.

Familie bedeutet für viele Menschen sich wohlzufühlen, ein ultimativer Safe Space der Geborgenheit. Genau das würde Juli niemals von ihrer Familie behaupten. Ihre Familiendefinition lautet: Gewalt, Angst und Manipulation. Claudia Schumacher zeigt in ihrem Roman Liebe ist gewaltig, wie es ist, wenn das eigene Elternhaus das Schlechteste ist, was einem je passiert ist.

Von Saskia Menssen

Bild: Via Pixabay, CC0

Juli ist 17 Jahre alt und führt ein scheinbar unbeschwertes Leben. Mit ihren Eltern und zwei Brüdern lebt sie in Ederfingen, einer Kleinstadt in Süddeutschland. Bei der Familie Ehre scheint der Nachname Programm zu sein. Sie ist hoch angesehen, die Eltern sind Anwält:innen, ihre Kinder erbringen Topleistungen in der Schule und Sport. Was niemand weiß, ist, dass hinter den Wänden des großen Einfamilienhauses Julis persönliche Hölle lauert. Kurt Ehre, Julis Vater, schlägt seine Frau und Kinder regelmäßig hinter verschlossenen Türen.

Dabei treibt er ein perfides Spiel, in dem er seine Familie gegeneinander anstachelt und ausspielt. Den einen Tag ist Juli sein absolutes Lieblingskind, doch nur ein falsches Wort, ein falscher Blick reichen und schon rastet ihr Vater aus. Dann fallen Vorwürfe, Beleidigungen und nicht selten rutscht ihm die Hand aus, manchmal bis aufs Blut. Über all dieser Gewalt schwebt ein ungeschriebenes Gesetz, das jeder in der Familie Ehre wie ein Mantra verinnerlicht hat: Schweige. Egal, wie schlimm die Misshandlung auch ist, niemand darf davon erfahren, zu groß ist die Angst der Eltern, ihre Zulassung als Anwält:innen zu verlieren. Also schweigt Juli, versuchend, nicht in diesem Chaos zu ertrinken.

Ein schwarzes Loch: Die dysfunktionale Familie

Der Familienalltag im Hause Ehre ist ein ständiges Wegducken und Kleinmachen. Der Vater betritt den Raum und die Familie geht in Deckung. Augenkontakt wird gemieden, niemand möchte eine Steilvorlage geben. Grund zum Aufatmen bietet nur, dass die Sorge um den guten Ruf ihn zurückhält, denn Schläge werden heimlich ausgeteilt. Dabei bekommt jede:r in der Familie etwas davon ab. Nach welchen Kriterien er sie verteilt, scheint willkürlich und unberechenbar zu sein. Ganz nach dem Prinzip »Zuckerbrot und Peitsche« gelingt es Claudia Schumacher, die verworrene Dynamik einer dysfunktionalen Familie darzustellen.

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Claudia Schumacher
Liebe ist gewaltig

dtv: München 2022
376 Seiten, 22,00€

Neben dem Vater wirkt Julis Mutter wie der einzige sichere Anker in ihrem Leben. Sie ist fürsorglich und liebevoll. Auch wenn sie selber nicht handgreiflich gegenüber ihren Kindern wird, so ist sie dennoch kein Unschuldslamm. Typisch für eine dysfunktionale Familie sind für Juli oft die Rollen von Elternteil und Kind vertauscht. Ihre Mutter benutzt sie als Auffangbecken und Trostquelle und verpasst dabei die Chance, dasselbe für ihre Tochter zu sein. Stattdessen badet sie sich in Julis Trostversuchen, immer nach der Bestätigung suchend, dass sie keine schlechte Mutter ist. Gaslighting ist tägliches Programm. Besonders Julis Mutter verdreht Fakten. Wenn es nach ihr geht, haben sich bestimmte Ereignisse nie zugetragen. Der dunkle Fleck auf dem Teppich im Wohnzimmer ist offiziell auch kein Blut, sondern ein Überbleibsel von Julis Erbrochenem. Es fällt kein Wort darüber, dass an dieser Stelle Julis Vater ihren Bruder Bruno zu Boden prügelte, sich daraufhin Schuhe anzog, um ihm dann besser gegen den Kopf treten zu können. Beim Versuch, über diesen Gewaltakt zu sprechen, nennt Julis Mutter sie undankbar und eine Lügnerin. Auf diese Weise manipuliert sie ihre Kinder und entzieht sich der Verantwortung. Auf beide Eltern ist kein Verlass, niemand sagt die Wahrheit, sodass Juli selber daran zweifelt, was Realität ist und was nicht.

Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus dem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die lässt dich nicht los. Jeder hat gegen jeden was in der Hand. Verstrickungen, Erstickungen: es ist wie Mafia. Eigentlich wollte ich heute Morgen meinen Kopf gegen die Wand schlagen, stattdessen habe ich brav meinen Koffer gepackt.

In der Familie Ehre kreist alles um den Vater. Alles ist darauf ausgerichtet, dass seine Vergehen nicht auffallen oder das, was er tut, nicht an die Öffentlichkeit gerät. Wie ein schwarzes Loch zieht er alle anderen Familienmitglieder in seine eigenen Abgründe, die er selbst nicht zu verstehen scheint. Damit erschafft er einen eignen Kosmos, von dem Juli glaubt, ein fester Teil zu sein. Gerade das macht Liebe ist gewaltig zu einem intensiven Leseerlebnis. Schumacher schafft es, selbst dem Vater so viel Farbe zu verleihen, dass ein Bild eines unzufriedenen und unglücklichen Mannes gezeichnet wird. Dadurch wirkt er realistisch und nahbar. Seine Handlungen bekommen somit einen Ursprung, der Einblick in den hässlichen Abgrund eines Menschen gibt, der unangenehm gut getroffenen ist. Unangenehm wird es dadurch, dass es plötzlich so nachvollziehbar und real erscheint, dass diese Darstellung nicht einfach nur Fiktion ist. Es gibt Menschen wie Kurt Ehre wirklich und durch Julis Beschreibungen bekommt man einen Geschmack dafür, wie die Gewalt eines unglücklichen Menschen das Leben seiner Angehörigen zur Hölle macht. 

Obwohl man sich das Geschriebene zu jeder Zeit gut vorstellen kann, die Handlungen stets sehr dynamisch und nah wirkt, stolpert man immer wieder über die fehlende Interpunktion der Dialoge. Das sorgt häufiger für Verwirrung, schränkt das Leseerlebnis aber nicht weiter ein. Der Roman hat einen einfachen und sehr flüssigen Schreibstil, der schonungslos ehrlich von Julis Gedanken und Gewalt erzählt. Schumacher trifft den frechen und bissigen Tenor einer 17-Jährigen und schafft es, durch Julis Direktheit und Witz schreckliche Szenen zu entschärfen und über allem einen gewissen Galgenhumor schweben zu lassen. Das ist auch bitter nötig, ansonsten wäre das Geschriebene kaum auszuhalten. Dadurch wird Liebe ist gewaltig zu einem Roman, der eine:n nicht so schnell wieder loslässt.

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