Im September 1824 machte sich Heinrich Heine von Göttingen auf zu einer vierwöchigen Harzreise. Ich folgte ihm für vier Tage – 188 Jahre später, dafür aber einen Monat früher. Seinem Vorsatz folgend auf die Berge zu steigen, »wo die Brust sich frei erschließet«, machte ich mich zum Brocken auf.
Von David Kreitz
Bild: Snufkin via pixabay / CCO
Aufbruch
»Es war noch sehr früh als ich Göttingen verließ«, und auch ich stiefele in aller Herrgottsfrühe durch das Ostviertel, mit Heine mich fragend, ob auch heute noch der ein oder andere Professor »im Bette lag und träumte […] er wandele in einem schönen Garten, auf dessen Beeten lauter weiße, mit Zitaten beschriebene Papierchen wachsen, […] von denen er hier und da mehrere pflückt und mühsam in ein neues Beet verpflanzt […].« Die akademischen Zugvögel reisten allerdings vermutlich gerade aus der Hauptstadt hier in die schnöde Provinz.
Ich gehe Richtung IfL – strammen Schrittes, das verlangt schon der Name: »Institut für Leibesübungen« – und dann ab in die Feldmark oberhalb von Weende. Die Stadt Göttingen, »berühmt durch ihre Würste und Universität«, verschwindet langsam in meinem Rücken.
Hin und wieder schaue ich auf die Uhr, die Zeit schien manchmal schnell, manchmal sehr langsam vergangen. Ich lasse Bovenden links liegen und gehe weiter, die Plesseburg fest im Blick. Der Rucksack sitzt gut und auch die Schuhe drücken kaum, auch wenn ich Angst vor Blasen habe, berechtigterweise, wie sich zeigen wird. Durch Rauschenwasser, wo heute im Gegensatz zu Heines Zeiten wohl kaum noch viel »horizontales Handwerk« für Göttinger Studenten betrieben wird. Gen Nörten ging’s dann an den Tennisplätzen vorbei, auf denen ich als Zwölfjähriger gelbe Filzbälle malträtierte. Ich halte auf den Rhodebach zu, aus Kindertagen erinnere ich eine Brücke, die ist jedoch von Brennnesseln, Springkraut und Disteln meterhoch umwachsen und unsichtbar. Mit einem Knüppel bahne ich mir den Weg durchs Grün und finde die alte, stellenweise eingebrochene Brücke. Drei Schritte, knack, der Boden unter den Füßen ist weg, ich falle, rudere mit den Armen, lande auf dem Rücken und hänge mit dem Hintern überm Bach. Ich stemme mich hoch, überquere die Brücke. Drüben zittern mir die Beine und minutenlang verlässt mich ihr Kribbeln nicht. Heine wanderte an seinem ersten Tag von Göttingen über Nörten und Northeim bis nach Osterode. Ich besuche erst einmal meine Eltern und schlafe eine Nacht in meinem alten Zimmer.
Tag zwei meiner Wanderung geht Richtung Osterode, ich schlage mich querfeldein durch den Wald, über einen Golfplatz, nach Katlenburg bis Berka. Hier lege ich die erste Rast ein. Beim Weitergehen merke ich, dass mir die Füße und der Rücken schmerzen, außerdem ist es heiß. Auf einem Feldweg kommt mir ein Landwirt entgegen. Er ist abgestiegen von seinem Trecker, oben ohne steht er mir gegenüber, eine eitrige Wunde auf der Brust, die ich dauernd anstarren muss. Immerhin weiß ich, dass ich richtig bin und hinter der Hügelkuppe Osterode liegt. Wurde auch Zeit, ich bin jetzt doch ziemlich fertig. »In pechdunkler Nacht kam ich an zu Osterode«, so Heine. Ich laufe von Süden gegen 15 Uhr in die Stadt, ins Zentrum, zur Touristen-Information. Ich organisiere mir eine Karte und eine Stunde später humpele ich auf den Hof des Jugendgästehauses. Beim Ausziehen der Wanderstiefel erwarte ich eigentlich Klumpen statt Füße, die Fersen sind aufgerieben, es schmerzt überall. »Ich war müde wie ein Hund und schlief wie ein Gott« ̶ dito!!! Danach schlurfe ich in eine Gaststätte, esse und gehe wieder schlafen. Heine berichtet nichts von kaputten Füßen.
Ich verarzte mich morgens mit Tape und Pflastern. Beim Frühstück unterhalte ich mich mit einem älteren Herrn über Heine, die anstehende Wanderung und Unterkünfte in Altenburg, das nächste Etappenziel. Heine hatte den Weg über Claustal und Zellerfeld genommen, ich wollte auf direktem Weg zum Brockengipfel. »Die Sonne gab eine liebe, gar kindliche Beleuchtung« ̶ auch auf meinem Weg entlang der Soesetalsperre.
Mich grüßen Ortsschilder mit so wunderbaren Namen wie »Riefensbrock« und »Kammschlacken«, ich raste im Biergarten der Dammhütte und werde in Altenau willkommen geheißen von einem üppigen Frauenhintern auf der FKK-Terrasse der dortigen Therme. Ich checke in meiner Unterkunft ein und will ein Restaurant suchen, da entdecke ich den Heine-Freund von heute Morgen auf einer Bierbank beim Imbiss nebenan. Ich setze mich zu Herrn M., wie er sich vorstellt. Bei Essen und Bier erzählen wir vom Wandern, Auslands-Aufenthalten im Studium und von der Universität Göttingen, an die wir, nicht so wie Heine, eigentlich positive Erinnerungen haben.
Heinrich Heine
Die Harzreise
Reclam: Ditzingen 2013
96 Seiten, 2,80 €
Zum Gipfel
Im strömenden Regen brechen wir am nächsten Tag nach Torfhaus auf. Herr M. entpuppt sich als Anekdoten-Alphamännchen, liefert sich selbst und lässt mich liefern, was er an Material für immer neue Geschichten benötigt. Ohne Unterlass, stundenlang – auch als wir die Steile Wand durchqueren: neben mir ein Abgrund, nebelverhangen, aber tief, der Weg, nur zwei Fuß breit, in meinem Ohr ein nicht endender Wortschwall. Auch Heine kann über die Freuden gemeinsamer Wanderschaft berichten:
Wir aßen noch zu Mittag in Torfhaus, währenddessen es aufklarte und wir den Weg zum Brocken im Trockenen hinter uns brachten. Dann trennten wir uns, Herr M. will nach Schierke, mich ruft der Gipfel – der schrille Laut, den ich vernehme, rührt von der Brockenbahn her.
Um 15 Uhr bin ich auf 1142 Metern angelangt. Statt in die Ausstellung zum Brocken im Kalten Krieg zieht es mich zum Brockenwirt. Das scheint mir auch viel eher in Heines Sinne:
Mir erging es glücklicherweise nicht so, denn »[i]ch kann viel vertragen – die Bescheidenheit erlaubt mir nicht, die Bouteillenzahl zu nennen« – und so war mein Abstieg mit einem weiten, klaren Blick ins Land verbunden.
Mit jedem Schritt steht man weniger über der Welt und den Dingen da unten. Ich wähle selbstverständlich den Heine-Wanderweg nach Ilsenburg. Zwischen Felsen geht es hinab ins Ilsetal und dann entlang an den sehenswerten Ilsefällen.
Mit dem Brockenabstieg endet Heines Reisebericht. Er war dann noch bei Goethe in Weimar, ein Besuch, der nicht so erfreulich verlief wie gedacht – sehr schön beschrieben in Lew Kopelews literarischer Heine-Biographie1Kopelew, Lew: Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden. Berlin 1997.. Ich verzichte allerdings gleich auf den Besuch beim Dichterfürsten und steige, völlig fußlahm, in Ilsenburg in die Bahn und fahre nach Goslar zum Übernachten.
Dafür besuche ich das Museum am Rammelsberg am nächsten Tag und treffe zufällig einen Bekannten, der beim »UNESCO Welterbe im Harz« arbeitet. Nach dem »Hallo, was machst du denn hier?« ernte ich das größere Hallo, als ich von meiner Wanderung erzähle und werde im Kolleg*innenkreis quasi als »Kuriosum« vorgestellt.
Was soll das eigentlich?
Literaturtourismus, der sich in Wanderungen wie der dargestellten, im Besuch von Dichterhäusern und dem Abhängen in Pariser und Wiener Cafés zeigt, kann sicherlich belächelt werden. Gerade weil diese Beschäftigung mit Literatur und Biographie wenig mit der akademischen Literaturwissenschaft zu tun hat. Ein Stück Literatur bleibt dahingehend unnahbar, dass es nicht möglich ist, die genaue Empfindung eines Augenblicks zu reproduzieren. Der Moment, in dem Heine den Brocken betritt, und würde ich auch haargenau die gleichen Schritte tun, lässt sich nicht rekonstruieren. Warum also hätte ich die Zeit meiner Wanderung nicht besser mit Sekundärliteratur in der Bibliothek zugebracht? Sicher, so wäre ich dem Inhalt, dem historischen Kontext, den möglichen Interpretationen viel näher gekommen und hätte dem »Notizenstolz der hochgelahrten Georgia Augusta« gehuldigt. Allerdings hätte ich keine Ahnung vom Unterwegssein, von schmerzenden Füßen (die Heine nie erwähnt), vom Brockengipfel (auf dem ich dann immer noch nicht gewesen wäre), vom Notizen machen (was Heine auch nie thematisiert), hätte den Ilsestein und die Ilsefälle nicht gesehen. Fast 200 Jahre später kann man also noch immer auf Heines Spuren durch den Harz wandern und was dabei mit dem gelesenen Werk und der durchwanderten Landschaft geschieht, könnte als eine gegenseitige Auratisierung beschrieben werden. Laut Walter Benjamin ist »[d]ie Spur [die] Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«2Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften Band V, Frankfurt am Main 1982, S. 560.
Weitergedacht, weg von der subjektiven Freude am ähnlichen Erleben von literarisch Beschriebenem: Vor einigen Jahren führte der französische Historiker Pierre Nora den Begriff der »lieux des memoires«, der Erinnerungsorte, in die Geschichtswissenschaft ein.3Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire. Bände 1-3. Paris 1984-1992.
Dazu weiterführend:
Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1998.
Ders.; François, Étienne: Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005.
Diese Mnemotope sind dabei nicht nur Orte im geographischen Sinne, sondern auch Kunstwerke, historische Ereignisse, mythische und reale Personen, die im kollektiven Gedächtnis einer bestimmten Gruppe verankert und identitätsstiftend sind.
Es erschienen auch drei Bände zu Deutschen Erinnerungsorten4François, Étienne; Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bände. München 2001.
Dazu weiterführend:
http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/erinnerungsort/, die zwar »Heinrich Heine« und »Der deutsche Wald« als Stichworte aufführen, den »Harz« oder den »Brocken« jedoch ungenannt lassen. Reale geographische Orte gehen im Sammelbegriff »Erinnerungsort« womöglich unter, weil immer nur nach der Vorstellungswelt gefragt wird, die ein Ort, eine Person, ein Objekt hervorruft.
Es ließe sich fragen, was mit einer Sammlung literarischer Erinnerungsorte in Deutschland und anderswo, oder, um passend zu beginnen, in Göttingen und Umgebung, sinnvolles zur Vermittlung von Literatur oder literaturwissenschaftlicher Forschung beizutragen wäre.
Antworten zu Letzterem finden sich in der Literaturgeographie. Früh im 20. Jahrhundert werden vor allem biographische Stationen von Schriftstellern kartographiert, erst im letzten Jahrzehnt sind weiterführende literaturgeographische Fragestellungen aufgeworfen worden, so z.B. auf der Arbeitstagung »Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien – Perspektiven einer Geographie der Literatur« 2007 in Göttingen oder bei der Vorstellung von Bianca Piattis Buch Geographie der Literatur5Piatti, Barbara : Die Geografie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008.
Dazu weiterführend:
http://ifb.bsz-bw.de/bsz28260801Xrez-1.pdf
http://www.literaturatlas.eu/
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/literaturgeographie-auf-dem-vierwaldstaettersee-14155720.html im Göttinger Universitätstheater (ThOP) 2009. Dabei interessiert sich Piatti v.a. für die Handlungsräume literarischer Werke und vergleicht literarische und reale Landschaften. Ihr geht es dabei nicht darum, eine mimetische Theorie von Literatur als reiner Abbildung zu re-etablieren, doch widerspricht sie Ansätzen, die davon ausgehen, dass Fiktionalität und Realität überhaupt keine Berührungspunkte hätten. Die Gestaltung dieser Beziehung, die Referenz, ist es, was sie literaturwissenschaftlich untersuchbar macht.
In Piattis Großprojekt, einem Literaturatlas Europas, müssten sicherlich auch irgendwann die Reisebilder Heinrich Heines und somit auch die Harzreise zu finden sein.6Weiterführend zu Heinrich Heines Die Harzreise:
http://www.literarischegesellschaft.de/Heinrich_Heine_Harzreise.html
http://literarischegesellschaft.de/PDF/Heinrich-Heine-lebt.pdf