Philipp Winkler liest in der Landesvertretung Niedersachsen in Berlin im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes 2022 am 23. September aus seinem neuen Roman Creep, moderiert von Mara Becker. Über einen Autor mit »einem Faible für Außenseiter:innen«, Gewaltverherrlichung im Darknet und das Lebensgefühl der Millennials.
Philipp Winkler kommt etwas zu spät. Dies ist im Stream der Lesung nicht von Beginn an erkennbar, jedoch entschuldigt sich der Autor bei Mara Becker und dem Publikum. Eine Lesung, die mit Corona-konformem Händedesinfizieren beginnt und deren Themen wie Spotlights der Pandemie klingen: Isolation, Internet- und Mediensucht, Einsamkeit. Dabei hat Creep, Winklers neuer Roman, noch so viel mehr zu bieten: Es geht um Gewaltverherrlichung im Darknet, die Effekte und Folgen von Mobbing, japanische Kultur und psychische Gesundheit. Um zwei Millennials, die beinahe nur in der Welt des World Wide Web existieren, zwei Lebensentwürfe, die in der Mainstream-Gesellschaft blinde Flecken bilden.
Die Protagonist:innen
Da ist Junya aus Tokio, der seit Jahren sein Kinderzimmer nicht verlassen hat, über sein Trauma aus seiner Schulzeit – verursacht durch jahrelanges, starkes Mobbing – nicht hinwegkommt und Videos ins Darknet stellt. Jene zeigen seine grausamen Gewalttaten: Junya tötet Lehrer:innen, indem er in die Wohnungen seiner schlafenden Opfer einbricht. Das Motiv ist eindeutig: Er möchte sich an jenen Personen rächen, die trotz ihrer Fürsorgepflicht als Erwachsene das Mobbing in seiner Jugend nicht verhindert haben. An jenen Personen, die in seinen Augen seine Schulzeit zur Hölle gemacht haben.
Die zweite Protagonist:in des Romans ist Fanni, die in Hannover bei Bell arbeitet, einem Konzern, der Überwachungskameras verkauft und die so gewonnen Daten seiner Kund:innen rigoros nutzt. Denn Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Fannis Job ist es, die Videoaufnahmen der Kameras zu schauen und deren Content zu labeln, damit der Algorithmus immer weiter optimiert werden kann. Doch Fanni verliert sich in den Privatwelten fremder Menschen. Die Naumanns, eine Familie, die eine der Kameras nach einem Einbruch in ihrem Zuhause montiert haben, verfolgt Fanni virtuell auf Schritt und Tritt. Sie frühstückt sogar mit ihnen in ihrem Büro. Fanni ist eine Stalkerin, die unsichtbar bleibt, untergeht in der Masse, sowohl im Internet als auch im realen Leben.
Content-Producer und Content-User: Das Zusammenspiel im World Wide Web
Göttinger Literaturherbst 2022
Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.
Junya und Fanni unterscheiden sich voneinander in ihren Rollen, die sie im Internet einnehmen: Während Junya Content produziert und ins Darknet stellt, um Anerkennung zu bekommen, konsumiert Fanni diesen Content als stille und unsichtbare Beobachterin der Gewalttaten, so Winkler. Der Autor betont, dass es sich bei seinem Werk nicht um eine Dystopie handele, sondern wir längst in der beschriebenen Welt angelangt seien.
Auf die Frage nach der Recherche für seinen Roman gibt Winkler zu, dass in seiner Jugendzeit das Portal Rotten.com beliebt war, um sich illegale Taten oder Verkehrsunfälle anzusehen. Allerdings habe er im Laufe der Recherche vor allem mit Menschen wie Fanni und Junya gesprochen, jenen, die sich von der Außenwelt isoliert haben und in die Weiten des Internet geflohen sind. Besonders intensiv habe er bei der Recherche die Chatfunktion auf Reddit genutzt, um mit solchen Menschen in Kontakt zu treten. Junyas Figur sei als Teil des Hikikomori-Phänomens in Japan zu begreifen, also als eine von jenen jungen Menschen, die sich von der Gesellschaft zurückgezogen haben und ihre Zimmer nicht mehr verlassen wollen.
Einblicke in Winklers kreativen Schaffensprozess
Durch Mara Beckers gezielte Fragen erhält das Publikum auch Einblicke in Winklers Schaffensprozess. Nach seinem Debütroman Hool und der Erzählung Carnival habe er sich dem Stempel des Feuilletons, »ein Faible für Außenseiter:innen der Gesellschaft zu haben«, widersetzen wollen. So sei er bei einem Romanprojekt gelandet, das er nach zwei Jahren letztlich abgebrochen habe. Während der Entstehung von Creep danach sei er depressiv gewesen – und landete somit doch wieder bei den Außenseiter:innen.
Und warum Japan und Junya? Er habe sich, so der Autor, schon immer für die japanische Kultur interessiert, sei vor einigen Jahren selbst kurz in Japan gewesen und habe sich viel mit den Hikikomoris beschäftigt. Liest man Creep, so hat man nicht das Gefühl, dass der Autor hier über eine ihm fremde Kultur schreibt. Junya scheint ebenso wie Fanni als Figur ganz und gar glaubwürdig.
Ein Roman, der aktueller kaum sein könnte
Winkler hat mit Creep einen Roman verfasst, der lange, nachdem man die letzte Seite gelesen hat, im Gedächtnis bleibt: Junya und Fanni stehen für das Lebensgefühl der Millennials, in der Realität keinen Zauber mehr zu erkennen. Vielmehr suchen beide ihre Identität und Zugehörigkeit im Darknet, einem Ort, der das Grauen der Menschheit in all seinen abgründigen Facetten widerspiegelt. Fanni und Junya finden sich nicht mehr zurecht in einer Gesellschaft, in der zwar das Individuum gefeiert wird, doch Individualität selbst nicht zählt. Sie flüchten in die virtuelle Welt, die ihnen realer erscheint.
Philipp Winkler
Creep
Aufbau Verlag: Köln 2022
342 Seiten, 22,00€
Zurück bleiben nach der Lesung viele offene Fragen: Wird Social Media irgendwann so verpönt sein wie Zigarre rauchen? Ein Wunsch, den Winkler selbst explizit äußert. Ist das Internet wirklich die als realer anmutende Wirklichkeit? Wer bietet Menschen wie Junya und Fanni psychologische Hilfe an, fragt eine Zuschauerin. Was soll aus ihnen werden, in einer Gesellschaft, die ihre Flucht ins Darknet ignoriert? Und wer sind die eigentlichen Creeps? Menschen wie Junya und Fanni oder Unternehmen wie Bell, die gläserne Kund:innen erschaffen und die Privatsphäre abschaffen, fragt Mara Becker. Viele Fragen der Lesung bleiben ungeklärt. Doch zeichnet genau dies gute Literatur aus: komplexe Themen zu behandeln, mit denen sich die Leser:innen nach Abschluss der Lektüre weiter beschäftigen können.