Nach jahrelanger Beobachtung des NSU-Prozesses ziehen NSU-Watch Zwischenbilanz. Sie wollen die Angehörigenperspektive stärken, institutionellen Rassismus als grundlegendes Problem betonen und reflektieren, was vom antifaschistischen Engagement nach dem Urteil übrigbleibt.
Von Frederik Eicks
Bild: By Tobias Möritz via Wikipedia, CC BY-SA 2.0, cropped
»Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt.« (Tülin Özüdoğru)
»Alles haben sie kaputt gemacht, alles.« (P. Kılıç)
»Wie krank ist es eigentlich, jemanden nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe zu ermorden?« (Abdulkerim Şimşek)
»Ich weiß auch, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Eines aber können wir tun: Nicht aufhören zu fragen.« (Yvonne Boulgarides)
So klingen die Stimmen der Angehörigen der insgesamt zehn Mordopfer, neun davon aus rassistischen Motiven getötet von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU, die von 1998 bis zur Selbstenttarnung 2011 außerdem 15 Raubüberfälle auf Supermärkte, Banken und Postfilialen sowie drei Anschläge verübt hat. Um sowohl die anschließenden parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Ländern und Bund zur Verstrickung des Verfassungsschutzes mit dem NSU als auch den Prozess gegen Beate Zschäpe und vier ihrer Unterstützer unabhängig zu beobachten, schließen sich 2012 einige antifaschistische Gruppen und Initiativen zusammen. Sie gründen das mehrfach preisgekrönte (zuletzt Grimme Online Award 2020) Watchblog NSU-Watch, auf dem Protokolle zu jeder einzelnen Sitzung veröffentlicht werden. Nach der mündlichen Urteilsverkündung im Sommer 2018 durch das Münchener Oberlandesgericht dauert es bis April 2020, bis das 3025 Seiten umfassende schriftliche Urteil vorliegt. Vier Monate später veröffentlicht NSU-Watch als Autor*innen-Kollektiv das Buch Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess.
NSU-Watch lassen den Prozess Revue passieren und ziehen eine Art Zwischenbilanz. Bei Letzterer liegt die Betonung auf dem ersten Wortteil: ›zwischen‹. Denn was die Autor*innen vor allem tun – getreu der oben zitierten Yvonne Boulgarides – ist: Fragen stellen. Zwar wolle »das Urteil ein Schlussstrich sein«, doch entgegen dem Anschein der Abgeschlossenheit, den eine Verurteilung aller Angeklagten erwecken mag, bleiben viele Verknüpfungen des NSU-Netzwerks, insbesondere mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, verborgen. Die Vielzahl von Unklarheiten wird in acht Kapiteln dargelegt, die sich der Reihe nach mit den verschiedenen am Prozess beteiligten Statusgruppen beschäftigen: Angehörige und Überlebende, Angeklagte, Bundesanwaltschaft, Senat, Zeug*innen, Öffentlichkeit. Dass die Angehörigen allen anderen vorangestellt sind, folgt einem weiteren erklärten Ziel von NSU-Watch: den betroffenen Menschen Gehör zu verschaffen, ihr Leid anzuerkennen, sie – und nicht die Täter, wie so oft in den Medien geschehen – in den Mittelpunkt dieser Erzählung zu rücken.
Das vakuumierte Trio
Am 23. Februar 2012 sagt Angela Merkel in ihrer Gedenkrede etwas, das später noch oft zitiert werden wird. So auch im vorliegenden Buch:
Dieses Versprechen hat in den Behörden nur wenig Resonanz gefunden. Die darauffolgende mediale Stille, die sich nach und nach um das Thema gelegt hat, versucht NSU-Watch zu durchbrechen. Vor allem das Kapitel über die Angeklagten wird genutzt, um Schlaglichter auf einen ausgesprochen gut vernetzten NSU zu werfen und damit den zentralen Punkt von Anklageschrift und Urteil als fadenscheinig zu enttarnen: Die Annahme, dass es sich beim NSU um ein weitgehend isoliertes, quasi vakuumverpacktes Trio handelte, dass zwar hin und wieder Unterstützungsleistungen erhielt, ansonsten aber allein operierte, wirkt in Anbetracht der schlagkräftigen Argumente von NSU-Watch wie Schadensbegrenzung. Gleichfalls erwecken die Handlungen und Entscheidungen der Verantwortlichen bestenfalls den Eindruck der Nachlässigkeit, oft aber den des Vorsatzes.
Schon die Taten selbst verraten, dass das in Zwickau ansässige Trio bundesweite Kontakte zur rechten Szene unterhielt. Bei Tatorten wie 1999 in einer Nürnberger Kneipe ließ von außen nichts auf migrantisches Leben schließen. Der Laden war noch nicht einmal eröffnet, da deponierte der NSU auf der Toilette eine Rohrbombe, verbaut in einer Taschenlampe. Die Täter benötigten zur Durchführung genaue Ortskenntnisse. Mehr als ein leises Verdachtsmoment auf die Einbettung der drei in ein umfassendes Netzwerk von Unterstützer*innen sind außerdem 20 nach der Selbstenttarnung sicher gestellte Schusswaffen, über deren Herkunft bis auf drei Stück nichts bekannt ist.
NSU-Watch
Aufklären und Einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess
Verbrecher Verlag: Berlin 2020
232 Seiten, 18,00€
Anekdoten aus der Verhandlung lassen starke Zweifel auch am Senat, der dem Prozess vorstand, aufkommen. Allen voran erzählen sie von vielen abgeschmetterten Anträgen der Nebenklage, mit der sie Dokumente des Verfassungsschutzes in die Beweisunterlagen mit aufzunehmen oder bestimmte Zeugen vernehmen zu lassen versuchte. Eklatantestes Beispiel ist hier wahrscheinlich Ralf Marschner, der Hinweisen zufolge über seine Baufirma nicht nur Fluchtfahrzeuge für die Mordanschläge zur Verfügung gestellt hat, sondern auch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zeitweilig als Bauarbeiter beschäftigt hatte. Besonders frappierend ist aber auch die Nicht-Vernehmung Lothar Lingens, eines Mitarbeiters beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Nach den Ergebnissen eines Untersuchungsausschusses hat dieser nur sechs Tage nach der Selbstenttarnung des NSU entgegen üblicher Richtlinien das Vernichten von Akten mit NSU-Bezug angeordnet, um das Amt vor Verdachtsmomenten und Fragen zu schützen.
Trotz allem zeigen die Autor*innen mehrfach, dass ihre Beispiele nicht nach Passung ins eigene behördenkritische Narrativ ausgewählt wurden. Wo Verantwortliche im Sinne einer angemessenen, umfassenden Aufklärung gehandelt haben, finden sich auch entsprechende Erwähnungen – beispielsweise über eine »kleine, weitgehend rhetorische Korrektur« der Bundesanwaltschaft, die von der ehrgeizig verfochtenen Trio-These ein Stückchen abgerückt sei und den Angeklagten André Eminger als mögliches viertes Mitglied nenne. Grundsätzlich gilt in allen Fragen zur Glaubwürdigkeit, Differenziertheit und Überzeugungskraft der in Aufklären und Einmischen vorgebrachten Behauptungen, dass NSU-Watch massiv von der eigenen über Jahre hinweg geleisteten Arbeit profitiert: Zwar ist in diesem nicht wissenschaftlichen Buch nicht jede Aussage belegt, überprüfen lassen sich dennoch alle Aussagen, und zwar anhand der für alle frei zugänglichen Protokolle von NSU-Watch.
Raus aus dem Vakuum
Aus den Protokollen geht auch das mangelnde Interesse des Senats hervor, die hinter den Morden stehende Ideologie und gesellschaftliche Dynamiken, die diese Ideologie befeuern, auszuleuchten. Deshalb werden NSU-Watch nicht müde, den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus zu thematisieren, der zentral für die Beantwortung der Frage ist, wie das NSU-Trio entstehen und dann 13 Jahre lang unbehelligt schwerste Straftaten begehen konnte. Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler wird mit einem so erschütternd präzisen Satz zitiert, dass ihn sich alle so oder so ähnlich ins Hirn brennen müssten:
Eigene Rassismen einzugestehen kann, egal ob für Einzelpersonen oder ganze Institutionen, schwer und schmerzhaft sein. Viel schmerzhafter ist allerdings zumindest für die Hinterbliebenen der Opfer, wenn die Scheu davor so groß ist, dass das Thema selbst in seinen extremsten Ausprägungen völlig ausgeklammert wird. Denn das ermöglicht dem Angeklagten Eminger, seit den 90ern in rechtsextremen Gruppierungen organisiert, sogar während des laufenden Prozesses auf Szeneveranstaltungen zugegen und am Ende teilweise freigesprochen, seinen Verteidiger verlesen zu lassen:
Aufklären und Einmischen ist kein bloßer Titel. Es ist zeitgleich ein Appell zur kritischen Beobachtung, zur Wissensvermehrung und letztendlich zur Veränderung. Damit sich solche furchtbaren Taten nicht wiederholen können, müssen viele Annahmen hinterfragt werden, die sich »durch unbewusste Vorurteile, Nichtwissen, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype« über Jahrzehnte festgetreten haben. Das letzte Zitat entstammt dem Plädoyer der Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die kurz nach der mündlichen Urteilsverkündung 2018 zum ersten Mal ein Drohschreiben erhielt. Es war mit dem Kürzel ›NSU 2.0‹ unterzeichnet. Seitdem wurden an mehrere Personen des öffentlichen Lebens insgesamt 105 Drohschreiben mit derselben oder einer ähnlichen auf einen eindeutig rechtsextremen Hintergrund verweisenden Unterschrift verschickt. Von vielen dieser Personen ist außerdem bekannt, dass ihre vertraulichen Daten zuvor von Polizeirechnern abgerufen wurden.
Das allein reicht eigentlich schon als Beweis dafür, dass die Entstehung des NSU-Trios keineswegs ein Einzelphänomen ist, dass es einer umfassenden Aufdeckung rechtsextremer Strukturen auch innerhalb staatlicher Apparate bedarf. Erstaunlicherweise findet sich im Buch keine einzige Anmerkung zum NSU 2.0. Zum einen kann die weitgehende Aussparung von Verweisen auf aktuelle Entwicklungen damit erklärt werden, dass NSU-Watch ihr Augenmerk bewusst darauf richten, zuallererst und ausschließlich anhand des Prozessverlaufs zu zeigen, welche Fragen offengeblieben sind, welche Probleme noch immer einer nachhaltigen Lösung bedürfen etc. Zum anderen nutzen NSU-Watch für aktuelle Themen wie den NSU 2.0 oder den Prozess im Mordfall Walter Lübcke ihre digitale Plattform des Watchblogs, das ohnehin wesentlich geeigneter dafür ist, weil schneller und flexibler.
Gleichzeitig gibt NSU-Watch seinerseits ein Versprechen ab, nicht mit dem NSU-Komplex abzuschließen. Die Autor*innen zeigen auf Lichtblicke. Sie haben sich Optimismus bewahrt, ihre Erfolge nicht zu vergessen angesichts eines niederschlagenden Gerichtsurteils, das Nazis auf der Publikumstribüne jubeln ließ. Die Fragen sind gestellt und lassen sich nicht mehr von der Bildfläche wischen. Die Ereignisse rund um den NSU-Komplex sind ungeheuerlich – dieses Buch trägt dazu bei, sie nicht verblassen zu lassen und den Mut nicht zu verlieren, für Veränderung und insbesondere Verbesserung einzustehen. Sich diesem fortdauernden Kampf nicht zu entziehen, sind wir alle den Opfern schuldig: