Im Teufelskreis

Kürmann ringt darum, aus der primitiv-linearen Logik des Biografischen auszubrechen, doch es gelingt ihm nicht. Max Frischs Drama Biografie: Ein Spiel im Deutschen Theater bietet viel Unterhaltsames, aber die Quintessenz, eine Kritik am Kausalitätsdenken, kommt zu kurz.

Von Stefan Walfort

Bild: ©Haneef Baloch, mit freundl. Genehmigung d. DT Göttingen

Auf grünlich schimmerndem Boden ruht eine grell ausgeleuchtete Couch, auf der es sich Antoinette (Katharina Müller), eine der drei Figuren, gemütlich gemacht hat. Sie trägt ein kleines Schwarzes und pafft eine Fluppe nach der anderen. Kürmann (Gerd Zinck), Professor für Verhaltensforschung, baut sich, die Hände in den Taschen vergraben, daneben auf, schaut genervt auf Antoinette runter und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr niemals begegnet zu sein. Auf keinen Fall soll es zu dem verfluchten Moment kommen, in dem die Couch zu rotieren beginnt, sich immer zügiger dreht wie ein Kreisel, mit dem ineinander verschlungenen Paar obendrauf, es von der Decke rot-golden schimmerndes Konfetti rieselt, und am Ende folgen Hochzeit und Ehekrise und Hass und Zerwürfnis.

Ein Spielleiter (Gregor Schleuning) räumt Kürmann beliebig oft die Möglichkeit ein, zurückzukehren zu selbstgewählten Ereignissen aus seinem Leben, um dort zu intervenieren. Mit aus der Rückschau generiertem Wissen in der Hinterhand kann er – zumindest der Theorie nach – alles besser machen als zuvor. Nur will sich, weiß der Deibel warum, die Liaison mit Antoinette nicht verhindern lassen. Wie weit Kürmann in seiner Vita auch zurückspringt, stets aufs Neue landet Antoinette auf seiner Couch. Welche Tricks ihm der Spielleiter auch empfehlen mag, wie oft beide auch immer ihre Kleidung tauschen, damit der Spielleiter in der Rolle Kürmanns vorführt, wie am besten zu handeln sei – alles verkompliziert Kürmanns Lage nur zusätzlich: Als er Antoinette zum Beispiel zu ihrem Auto zu geleiten plant, statt ihr wie in einer früheren Version der gleichen Szene ein Taxi zu rufen, durchkreuzt eine Schwindelattacke Kürmanns Chance, sich Antoinette vom Hals zu schaffen: Kurzerhand landet sie, um sich von ihm aufpäppeln zu lassen: na wo wohl? Natürlich auf der Couch in seinen Armen.

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen. Weitere Biografie: Ein Spiel-Termine.

Eine Pointe jagt die nächste

Kürmann beschließt, noch früher neu anzufangen, auf die Professur zu verzichten, eine andere Wohnung zu beziehen; nur so, meint er, lasse sich jedes Aufeinandertreffen mit Antoinette vermeiden. Plötzlich spielt der Spielleiter von einem Regiepult aus eine Auswahl an Nachbarschaftslärm ein, mit dem sich Kürmann infolge seines Entschlusses zu arrangieren habe: Ein wenig Motorsägen- oder Flugzeuggeräusch gefällig? Oder lieber Musik von einer Ballett-Schule? Kürmann entscheidet sich dann doch für seine bisherige Unterkunft, und der Teufelskreis geht von vorne los. Schließlich zückt er eine Waffe. Hinterrücks knallt er Antoinette ab – nur um im nächsten Augenblick reumütig, aber nicht minder davon besessen, sie loswerden zu wollen, zum Zeitpunkt vor der Tat zurückzukehren. Je verbissener er darauf drängt, Antoinette aus seinem Leben zu streichen, desto gewisser wird für das Publikum, dass Kürmanns Verhältnis zu ihr etwas Obsessives hat, mit dem er Wesentlicheres verdrängt: Alle Warnungen vor einer Krebserkrankung, alle Ratschläge, auch diesbezüglich anders zu handeln als früher, diesmal zügiger ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, schlägt er in den Wind.

Bei aller Tragik, in die das Stück mündet, haben der Regisseur Christopher Haninger und die Dramaturgin Sonja Bachmann auf Grundlage einer Neufassung, die Frisch 1984 anfertigte, eine vor allem witzreiche Inszenierung erarbeitet. Das hat einerseits seinen Reiz. Eine Pointe jagt die nächste. Auch nach eineinhalb Stunden ist das Aufmerksamkeitslevel im Zuschauer*innenraum noch konstant hoch; niemand döst hier ein. Andererseits bleibt von dem eigentlich sehr viel Profunderen, das sich im Text findet, nicht mehr viel übrig.

Unsere Biografie mit allen Daten […] ist nur eine mögliche, eine von vielen, die ebenso möglich wären unter denselben gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen und mit derselben Anlage der Person.

So reflektiert der zunehmend fuchsige Kürmann in der Textvorlage über die Biografie als Gattung und über teleologische Prämissen, mit denen Biografien irrtümlicherweise operieren.

Was also kann, so gesehen, eine Biografie überhaupt besagen? […] Ich weigere mich, daß wir allem, was einmal geschehen ist – weil es geschehen ist, weil es Geschichte geworden ist und somit unwiderruflich – einen Sinn unterstellen.

Im Deutschen Theater hat das Regieteam solcherlei explizite Gattungskritik gestrichen. Auch eine politische Dimension (der an sich gesellschaftskritisch gesinnte Kürmann hatte einst sein kritisches Bewusstsein gegen Konformismus eingetauscht, doch nun, da er es auf neue Wendungen seines Lebens anlegt, tritt er in eine kommunistische Partei ein) haben Haninger und Bachmann ausradiert. Daher könnte am Ende der Eindruck entstehen, Biografie: Ein Spiel sei lediglich ein leicht konsumierbares Unterhaltungsstück.

Gegen das primitiv-lineare Denken

Viel zu lange schon galt Biografie: Ein Spiel als unpolitischer als es ist. Als das Züricher Schauspielhaus das Stück 1968 inmitten des bekannten Politisierungsschubs uraufführte, sah man laut des Frisch-Biografen Volker Hage einen vermeintlichen Fokus »auf scheinbar Privates [als] nicht besonders opportun« an. Dabei sind Biografie-Kritiken, an die Biografie: Ein Spiel andockt, fest in einer Tradition marxistischer Analyse des Bürgertums verankert. Wer sich damit näher befasste, kam schon damals, 68, an Siegfried Kracauer nicht vorbei. Heutzutage ist unbedingt auch Pierre Bourdieu zu nennen. Er setzte 1986 noch einen drauf.

Mit Biografien betreibe eine »neue Bourgeoisie« nichts weiter als ideelle Besitzstandswahrung, so spottete Kracauer 1930 in der Frankfurter Zeitung. Geschichten voller »großer Politiker, Feldherrn, Diplomaten« würden als Massenware verscherbelt – ohne Aussicht auf Erfolg, weil die Geschichte längst über die Ideen des 19. Jahrhunderts, nach denen ›große Männer‹ die Geschicke der Welt lenken, hinweggeschritten sei. Ideen von Handlungsmacht der Individuen überhaupt seien nichts als Phantasmen. Vielmehr verkümmerten die Subjekte zur Manövriermasse kapitalistischer Interessen. Und Bourdieu, der einen Aufsatz mit dem Titel Die Biographische Illusion verfasste, wollte vom Individuum nicht das Geringste mehr wissen. Den Schwerpunkt seines Interesses bildeten gesellschaftlich eingeübte Techniken der Selbstpräsentation, über die Biografien zuallererst Aufschluss gäben. Wer allen Ernstes glaube, Erlebnisse retrospektiv zu einem stringenten Gefüge verkoppeln zu können, sei ein »Ideologe seines eigenen Lebens«.

Zwischen Kracauer und Bourdieu ist Frisch anzusiedeln. Wenn er seinen Kürmann gegen »Biografie!!!« schreien, toben und Möbel treten lässt, nimmt er in fiktionaler Form eine Menge dessen vorweg, was Bourdieu später in Theorie überführte.

Ich weigere mich zu glauben, daß unsere Biografie, meine oder ihre, oder irgendeine, nicht anders ausgehen könnte. Vollkommen anders. Ich brauche mich nur ein einziges Mal anders zu verhalten – und ich werde nicht Professor, sondern ich komme ins Gefängnis.

So antizipiert Kürmann, was Bourdieu der Gattung Biografie ankreidete: schon an deren von Lebenslauf- und Lebensweg-Metaphern übervollem Sprachgebrauch lasse sich ein primitiv-lineares Denken erkennen. Indem Kürmann noch in dem Augenblick, in dem er zur Tat schreitet, seinen Vorsatz konterkariert und sich ganz gegen seine Intention die Ausgangssituation immer wieder neu herstellt, persifliert Frisch zugleich ein Unvermögen Kürmanns, aus der biografischen Logik auszubrechen.

Sie erkannte und problematisierte Bourdieu als eine »zugleich retrospektive und prospektive Logik«, die »in Abhängigkeit von einer Globalintention bestimmte signifikante Ereignisse auswählt und Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt, die geeignet scheinen, ihr Eintreten zu begründen und ihre Kohärenz zu gewährleisten«. Genau hierin, in einer Kritik simpler Kausalitätsannahmen, liegt die Quintessenz des Stückes. Sie müsste in der DT-Inszenierung zwar nicht ganz so aufdringlich sein, wie sie es bei Frisch ist. Doch es könnte nicht schaden, wenn sie ein klein wenig präsenter noch wäre.

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