Idyllische Popliteratur

Mit seinem dritten bei Matthes & Seitz erschienenen Roman Prana Extrem scheint Joshua Groß das zu beenden, was er mit seinen ersten beiden Romanen begonnen hat. Aus der geschilderten digitalen Vereinzelung des Romans Flexen in Miami wird gemäß dem Titel des zweiten Bandes Entkommen. Das gelingende Miteinander zeichnet den aktuellen Roman aus.

Von Sören Kleist

Bild: Via Pixabay, CC0

Ausgangpunkt von Joshua Groß’ Roman Prana Extrem ist ein Stipendium, das den Ich-Erzähler Joshua und seine Freundin Lisa für die Sommermonate in die Region Innsbruck führt. Die Anzeichen der momentan häufig verwendeten Autofiktion sind hier nicht zu übersehen: Die Partnerin des Autors, die Schriftstellerin Lisa Krusche, war 2019 Stadtschreiberin in Hall, das nur wenige Kilometer von Innsbruck entfernt liegt. Auch bei weiteren Orten des Romans kann eine Verbindung zu Groß hergestellt werden. Jedoch liegt der Fokus durch die skurrilen und unwahrscheinlichen Ereignisse auf der Handlung und nicht auf der Verbindung zum Autor. So ist das zufällige Treffen des Protagonisten mit dem sechzehnjährigen Skisprung-Talent Michael im Restaurant auf der Innsbrucker Skisprungschanze eines dieser Ereignisse. Die Begegnung ist der Anfang einer Gemeinschaft, die den immer heißer werdenden Sommer für alle erträglich macht.

»Entkommen wird nie ein individueller Akt sein«

Die Gemeinschaft besteht aus Joshua, Lisa, Michael sowie seiner älteren Schwester und gleichzeitig Trainerin Johanna. Während sich das junge Talent auf die kommenden Wettkämpfe vorbereitet, erleben die anderen einen ausgelassenen Sommer in Ausstellungen, heißen Quellen und Reisen. Alle Begegnungen laufen harmonisch ab. Ein kurzer Besuch in Braunschweig, um die Hündin Lu von einem Freund abzuholen, endet in einem fröhlichen Abend, bei dem es unter anderem um die Wertanlage in seltene Maggi-Fix-Tüten geht. Bei der Feier zum dreißigsten Geburtstag wird Joshua ein aus dem Museum geklauter Meteorit geschenkt, der die Erkenntnis bringt, »jeglicher Future-Flauheit abzuschwören«.

Die Herausforderung, eine Beziehung zu Menschen aufzubauen, die bei Groß’ Debütroman Flexen in Miami im Vordergrund steht, wird in Prana Extrem überwunden. Selbsterkenntnis und gelingendes Miteinander prägen den Roman, was ihn an vielen Stellen zu harmonisch und seicht macht. Als die fünfjährige Cousine der Geschwister, die für zwei Wochen von ihnen betreut wird, sich fragt, warum der Kühlschrank nicht antwortet, spielt sie auf Flexen in Miami an. Dort redet der Kühlschrank und ist neben der Assistenz gleichzeitig ein Freund für den Protagonisten. Der Millennial Joshua hat bereits die Erkenntnis, wie zu leben ist: Die neuen Generationen müssen noch lernen, wie sie mit der Einsamkeit in der immer digitaler werdenden Welt umgehen, wie sie ihr entkommen – so lautet der Titel von Groß’ zweitem Roman.

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Joshua Groß
Prana Extrem

Matthes & Seitz: Berlin 2022
301 Seiten, 24,00€

Auch die vorherige Generation wird in die Gemeinschaft aufgenommen, als ob kein Altersunterschied bestünde. Oma Suzet, die nach dem Tod ihres reichen Mannes nach Innsbruck reist, überwindet ihre Trauer inmitten der Gemeinschaft. Lediglich die Vaterfiguren stehen der allgemeinen Harmonie entgegen. Joshuas Vater versteht das Konsumverhalten seines erwachsenen Sohns nicht und gibt ihm Ratschläge, die nur die eigene Ignoranz gegenüber anderen Lebensweisen verdeutlichen. Ähnlich ist es mit dem Vater von Michael und Johanna. Für ihn ist sein Ruf im österreichischen Skiverband wichtiger als der Erfolg seines Sohnes. 

»ein möglichst voller, empfindsamer, trippiger Realismus«

Sprachlich wählt Groß einen Duktus, den er schon in seinen vorherigen Veröffentlichungen angewandt hat. Er verbindet unterschiedliche sprachliche Register zu einer Einheit. So trifft Umgangssprache auf Fachsprache und wenn er »Gemächlichkeit und Hustlerspirit« versucht zu verbinden, um »in die vierte Dimension hochzumeditieren«, dann trifft es sprachlich auf das »Schlurchen« von einem zum nächsten Ort.

Ihr ontologisches Befinden vaporisiert sich gewissermaßen aus dem Universum heraus; ein Sachverhalt, der sich seltsamerweise sogar in der aufquellenden Staubwolke artikuliert.

Das Psychedelische ist ein Hauptmotiv des Romans. Drogenkonsum wird nicht kritisch dargestellt und Tirol wirkt wie eine Idylle, in der die heißen Quellen als locus amoenus – Ort positiver Erfahrungen – dienen. Die ständig umherschwirrenden Riesenlibellen unterstreichen die unwirklich positive Atmosphäre. Sie sind das Symbol für das Endstadium der Idylle. Der Protagonist kommt durch eine Metamorphose seiner selbst und seiner Umgebung in einer heilen Welt an, in der seine negativen Erfahrungen getilgt werden können.

Mit diesen Änderungen verliert die Erzählweise des Autors auch ihre Drastik. Was zu Beginn »flashy und bizarr und wundersam« ist, wirkt im Fortlaufen des Romans eher platt und gezwungen. Ähnlich ist es mit den Empfindungen des Protagonisten. Anfangs noch aufregend und neu, wirken sie mit jeder Seite eintöniger. Als sich Joshua letztendlich mit seiner Freundin »hoch in die vierte Dimension« meditiert und für immer verwandelt, ist dies nur eine Randnotiz in einer Welt voller Harmonie und Unbeschwertheit.  

Neue Popliteratur?

Groß stattet seinen Joshua für die Selbstinszenierung mit einem Samtbeutel gefüllt mit Chupa Chups unterschiedlichster Sorten aus. Außerdem raucht er ständig Marihuana, hat Sex und amerikanischer Rap – vor allem von Lil Wayne – liefert ihm immer das passende Motto für sein Leben. Die unnatürliche Hitze des Sommers, die im Roman auch mit dem Klimawandel verbunden wird, ist dem Protagonisten bewusst, aber den Luxus von »Endlich wieder SUV« zieht er vor. 

Irgendwann setzte sich Lisa auf meinen Bauch und nahm den Chupa Chup aus dem Mund, um selbst daran zu lutschen. Ihr Gewicht war das einzige Gewicht, das ich gerade auf mir aushalten konnte, dafür spürte ich aber, wie mich genau ihr Gewicht wirklich werden ließ, in dieser entgrenzten, zerfließenden, selbstleuchtenden Welt. Lick me like a lollipop, summte Lisa, wobei sie rhythmisch ihren Kopf bewegte. Sie hielt mir den Chupa Chup hin und leckte daran.

Damit präsentiert Groß den Leser:innen gegenwärtige Popliteratur. Jedoch könnte der Autor ein solches Konzept des ständigen Selbstbezugs in Hinblick auf die aktuellen Krisen in Frage stellen. Er wählt aber einen anderen Weg. Wo ein egozentrisches Weltbild Konflikte mit der Gesellschaft entwickelt müsste, liefert Prana Extrem gelungene Gemeinschaft: eine Utopie von kompromissloser Selbstverwirklichung und konfliktloser Gesellschaft, deren Umsetzung nur in der idyllischen Fiktion gelingen kann.

Die Frage nach dem titelgebende Prana, das im Hinduismus Lebensenergie und Leben bedeutet, und in dem Michael ausgebildet wird, wie auch der Held von Frank Herberts Romanzyklus Dune, begleitet implizit den gesamten Roman: Wie sollen wir leben? Die Antwort ist für Groß das gelingende Miteinander. Im Roman führt diese Antwort zum Fehlen eines Extrems. Solch ein Extrem würde jedoch gerade dieses Buch besonders machen und so kann Prana Extrem nicht mit seinen Vorgängern mithalten. Friede, Freude, Eierkuchen – oder in diesem Falle besser Palatschinken – auf dreihundert Seiten ist eine schöne Wunschvorstellung, aber auf Dauer bleibt diese Idylle reizlos.

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