Hiobsbotschaft mit Tücken

Das DT präsentiert einen von Bühnenbild bis zu Schauspielkunst fast perfekt gelungenen Abend. Die Romaninszenierung von Matthias Roth sollte jedoch mit Vorsicht geschaut werden: Bei dieser Interpretation von Hiob fehlt mindestens eine Triggerwarnung.

Triggerwarnung: Ableismus

Von Lucie Mohme

Bilder: Thomas Müller, verwendet mit freundl. Genehmigung des DT Göttingen

Das Deutsche Theater Göttingen hält nach dem Lockdown unter anderem eine Romaninszenierung bereit: Im Juli feierte das Stück »Hiob«, basierend auf dem Roman von Joseph Roth, Premiere. Inszeniert und bearbeitet wurde der auf die biblische Hiobsgeschichte zurückgreifende Großstadtroman von Schauspieler und Regisseur Matthias Reichwald. Neben dem wiederkehrenden dramatischen Musikmotiv von Anton Berman, das die Szenen mit seiner Untermalung den letzten Schliff gibt, hinterlässt das raffiniert und praktisch gestaltete Bühnenbild von Jelena Nagorni den größten Eindruck.

Zentral ist die auf der Bühne platzierte Rampe, die von hinten bestiegen werden kann. Unter der Rampe befindet sich ein Raum mit einigen Hockern, die, wie sich im Verlaufe des Stückes herausstellt, vielseitig eingesetzt werden können. Der Boden der Bühne besteht überwiegend aus hölzernen Latten, die der Szenerie einen warmen Eindruck verleihen. Die Rampe scheint schon am Anfang verdächtig für einen Wandel des Bühnenbilds zu sein. Und tatsächlich wird kurz vor der Pause etwas Atemberaubendes geschehen.

Doch auch das beste Bühnenbild gibt wenig her, wenn es nicht bespielt und bis in den letzten Winkel ausgenutzt wird. Dies passiert in »Hiob« auf jeden Fall. Die Schauspielenden haben keine Scheu sich zu bewegen und die Rampe hinauf- und hinunterzurennen, um den Bühnenumbau dramatisch ins Spiel mit einzubauen. Scharfsinnig wirkt nicht nur dieser Aspekt am Bühnenbild, sondern auch die multifunktionalen Hocker, die als lange sargähnliche Holzkiste, als Treppenturm, als Zugsitze oder schwankend ein Uhrenticken darstellen. Es zeigt sich, dass die Schauspielenden mit dem Bühnenbild vertraut sind und genau wissen, wie sie die Bühne in Szene setzen können.

Gerd Zinck als Mendel Singer vor dem Bühnenbild von Jelena Nagorni. Foto: Thomas Müller

Gerd Zinck ist wie maßgeschneidert für die Rolle des Mendel Singer. Er versteht es, als Hauptdarsteller im ersten Teil des Stücks nicht besonders im Vordergrund zu sein, aber trotzdem für bedeutendere Szenen die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mendel, die Hiobsfigur, ist ein einfacher gottestreuer Mann mit einer jüdisch-russischen Familie bestehend aus seiner Frau Deborah (Rebecca Klingenberg), dem ältesten Sohn Jonas (Paul Trempnau), dem jüngeren Sohn Schemarjah (Roman Majewski), der Tochter Mirjam (Anna Paula Muth) und dem jüngsten Sohn Menuchim (Lukas Beeler). Florian Eppinger bleibt es übrig, alle vereinzelt wiederkehrenden Rollen mit Leben zu füllen, die nicht der Familie Singer angehören.

Menuchim hat eine Behinderung, die anderen drei Kinder zeigen sich schon im jungen Alter ihm gegenüber verständnislos und hasserfüllt. Dies zeigt die verstörende Szene, in der Jonas, Mirjam und Schemarjah ihn in einem mit Regenwasser gefüllten Bottich unter Widerstand am Boden halten, bis er sich nicht mehr rührt. Dies ist der erste schwere Schicksalsschlag, der Mendel widerfährt. Menuchim überlebt die brenzlige Situation und die Kinder werden mit dem Gürtel bestraft.

Unmengen an Hiobsbotschaften

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen.

Es folgen weitere niederschlagende Ereignisse für Mendel. Schemarjah flieht aus Russland, um der militärischen Verpflichtung zu entkommen, während Jonas sich der Armee anschließt. Als die politische Situation in Russland immer beschwerlicher wird, müssen Mendel und Deborah sich entscheiden, Schemarjah mit der Familie nachzureisen, jedoch Menuchim zurückzulassen. Die Entscheidung fällt schwer und auch wenn der junge Menuchim die Lage scheinbar nicht wahrnimmt, gibt Klingenberg der schweren Entscheidung mit Bühnentränen Nachdruck.

Nach dem dynamischen ins Spiel eingebauten Bühnenumbau, bei dem die Familie auf der Rampe nach Amerika surft, treffen sie auf Schemarjah, der sich nun Sam nennt. Dort beginnt ein scheinbar besseres Leben für die Familie. Mendel wird jedoch von tiefem Bedauern zu seiner Entscheidung über Menuchim heimgesucht. Auch erste finanzielle Erfolge von Sam währen nicht lange. In Europa bricht der Erste Weltkrieg aus und Sam muss nun doch in den Krieg ziehen. Mendel überkommen immer mehr dunkle und niederschmetternde Ereignisse bis hin zum Tod seiner Familie. Diese treten, bis auf den von Beeler gespielten Menuchim, zu Ende des Stücks nur noch als namenlose Figuren in schwarzen Mänteln auf. Mendel ist allein.

Gott sei verflucht

Mendel wendet sich von Gott ab und schimpft auf ihn. Er »will Gott verbrennen«, beschimpft ihn als »Betrüger« und klagt Amerika an, dem es nur ums Geld gehe. Hier beginnen der Selbstzweifel und die finale Krise der Hauptfigur. Allein sitzt Zinck umgeben von den schwarz gekleideten Figuren in der Mitte eines breiten Lichtkegels. Der Auftritt von Beeler im tiefroten Anzug leitet das Finale ein. Er bewegt sich nur in Zeitlupe und läuft um den verzweifelten Mendel herum. Dann kommt es zur großen Enthüllung, die pointiert mit dramatischem Bühnenbild, Musik und Spiel gelingt.

Theaterwirksam und gleichzeitig poetisch wirkt die Narration im Stück, die von allen Schauspielenden abwechselnd übernommen wird. Ein Erzähler und simultanes Spiel bringen Abwechslung in den Theaterabend. Dieser Stil ähnelt dem des Schimmelpfennig-Stücks »Riss durch die Welt« aus der letzten Spielzeit des DT. Bei Hiob ist der dynamische Wechsel von dritter Person zur ersten personalen Erzählperspektive noch deutlicher. Zusätzlich wird die Wand zum Publikum gebrochen, zum Beispiel als Zinck in seiner Rolle als Mendel den Zuschauenden seine Beziehung zu seiner Frau Deborah erklärt.

Lukas Beeler als Menuchim am Bühnenrand. Foto: Thomas Müller

Beeler hat das stumme Spiel als Menuchim, der fast durchgehend ohne eigentlichen Text auf der Bühne spielt, perfektioniert. Obwohl er außer Niesen auf Abruf und leisem Summen nicht viel tut, schafft er es, durch die Intensität von Blicken Bühnenpräsenz zu behaupten. Auch sein ganz aus Strickwolle gestaltetes Kostüm bleibt in Erinnerung.

Trotz der beeindruckenden Performance ist es problematisch, wie der Charakter Menuchim als Hiobsbotschaft instrumentalisiert wird. Der unter Epilepsie leidende Junge wird als Kernproblem und besonders niederschmetternder Schicksalsschlag betrachtet. Zwar hören die Gewissensbisse der Eltern nicht auf, nachdem sie den Sohn zurückließen. Einen Sohn mit Behinderung als unmögliches Leben darzustellen, ist allerdings fragwürdig.  Deborahs und Mendels Wunsch an Gott, dass ihr Sohn geheilt werden solle, steht fraglicherweise im Mittelpunkt. Die Botschaft des Stückes sollte in heutiger Zeit nicht sein, dass nur ein Wunder der Heilung ein letztendlich glückliches Leben beschert. Selbst betroffene Zuschauende könnten sich hier angegriffen fühlen – eine Triggerwarnung wäre das Mindeste gewesen.

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