Hier kommt eine neue Stadt

Sound, Video, Text – aus diesen Zutaten kreiert die ungarische Poetin Kinga Tóth ihre Lyrik-Performances. Zu Gast war die Allround-Künstlerin bei der Kellerkultur-Lesung im P-Café, die Moderation des Abends übernahm Anna Bers. Ein tiefgehendes Erlebnis.

Von Steffen Bach

Bild: © Jessica Vaupel

Hartmut Hombrecher, Kevin Kempke, Nikola Müller, Margaux Erdmann und Lilly Günthner gründeten 2012 die Kellerkultur-Lesereihen. Auch am vergangenen Mittwoch lud man zwar zu Kultur, aber keineswegs in einen Keller ein. Das P-Café als Veranstaltungsort mit seiner Rundumverglasung erinnerte weit mehr an ein Gewächshaus denn an ein Gewölbe: an diesem Abend ein Gewächshaus für seltsame und im besten Sinne schräge Töne.
Diesmal konnten die Organisatoren Hartmut Hombrecher und Marisa Rohrbeck das Multitalent Kinga Tóth dafür gewinnen, ihre Sound-Video-Poesie in Göttingen zu präsentieren. Geboren 1983 in West-Ungarn studierte Tóth Sprachwissenschaften und trägt als Berufsbezeichnung mittlerweile nicht nur die Titel »Soundpoetin« und »Lyrikerin«, sondern ebenso »Illustratorin«, »Journalistin«, »Deutschlehrerin« und »Songwriterin«.

Die Moderation des Abends übernahm Anna Bers, die am Seminar für Deutsche Philologie unter anderem zu Lyrik-Performanz forscht. Ihre erste Frage an Kinga Tóth sollte direkt Licht ins Dunkel des Professionsgemenges bringen: »Was, Kinga, kannst du eigentlich nicht?« Kinga Tóth lacht auf diesen Einstieg in das Gespräch, fast, als sei ihr der Berg an Berufen etwas unangenehm. »Eigentlich ist mein Problem, dass keine der herkömmlichen Bezeichnungen das trifft, was ich so mache«, stellt sie fest. Gedichte zu schreiben, Videos zu drehen, dazu noch Musik zu machen und alles womöglich noch gleichzeitig auf einer Bühne vorzutragen ist in der Tat grenzüberschreitend. Sich nicht um Grenzen zu kümmern, sei ohnehin eine der Haupteigenschaften von Kinga Tóth, stellt Anna Bers sogleich fest. Ihre Texte schreibt die Dichterin auf Ungarisch, Englisch und Deutsch, sie erscheinen in ihrem Heimatland, aber in Übersetzung auch in Serbien, Deutschland, Irland und den USA.

Aber zurück zur Umtriebigkeit der Künstlerin: »Es gibt bei mir immer zuerst das Thema, etwas, das mich interessiert. Danach kommt dann erst die konkrete Form, wie ich mich dem Thema nähern will. Ich versuche dadurch, den Text zu ergreifen, seinen Sound, seine Konturen zu treffen.« »Also könntest du dir auch vorstellen, zu einem Thema, sagen wir, ein Haus zu bauen oder einen Tanz zu erfinden?«, wirft Anna Bers ein. Wieder lacht Kinga Tóth. »Warum nicht? In meinen Performances versuche ich, mir die Texte möglichst gut anzueignen, mich mit ihnen zu identifizieren. Die Form steht dabei nicht im Vordergrund.« Nochmals: Um Kategorien scheint die Ungarin sich wenig zu scheren.

Ein gutes Stichwort für Anna Bers, die zu ihrer nächsten Frage überleitet: »Die Wissenschaft ist immer froh, wenn die Kunst ihre Schemata überhaupt nicht beachtet, sogar kaputt macht. Wenn die Labels nicht passen. Die wissenschaftliche Vorstellung zu Performativität ist, dass der Text immer starr und unveränderlich bleibt, aber die Performance jedes Mal einzigartig ist, nicht wiederholbar, lebendig. Teilst du diese Einschätzung?« Kinga Tóth überlegt. »Naja«, wirft sie dann ein, »der Text ist für mich auch ein lebendiges Gebilde, das sich bei jedem Lesen verändert. Man könnte sagen, dass jedes Lesen eines Textes zuhause eine einzigartige Performance ist, genauso wie mein Lesen auf der Bühne, zu Musik, zu Videobildern. Somit ist dann beides auf seine Art lebendig.«

Nach Göttingen gekommen ist Kinga Tóth an diesem Abend allerdings nicht nur, um theoretisch über das Verhältnis von Bühne und Text zu diskutieren. Sie hat ihre neueste Veröffentlichung mitgebracht, den Gedichtband Wir bauen eine Stadt (parasitenpresse 2016). Die Texte darin handeln, so sagt sie, von Maschinen, vom Städtebau, von der Beziehung zwischen der Muttersprache Ungarisch, Deutsch als Fremdsprache und bestimmten Fachsprachen, die Sie »Code« nennt. Es ist das erste Buch, das die Ungarin auf Deutsch geschrieben hat.

Zu Beginn des Abends, noch bevor Kinga Tóths theoretische Überlegungen zu ihren Texten in den Fokus rücken, darf das Publikum miterleben, wie Tóth vorgeht, um sich ihre Texte anzueignen. Der Beamer wird angeschaltet, das Mikrofonkabel in die Buchse der blauen Loop-Station gesteckt. Es kann losgehen. Im Hintergrund erscheint eine weiße Fläche auf der Leinwand. Graue Schemen huschen durchs Bild, man kann sie nicht erkennen – doch! Es sind Buchstaben. Deutsche Wörter, englische Wörter, ungarische Wörter. Kinga Tóth hat sich das Mikrofon genommen. Sie haucht kehlige Geräusche in den runden Kopf, nimmt die Abfolge mit der Loop-Station auf und drückt auf einen Schalter. Das Gerät spielt die Töne, die sich beschwörend anhören, nun immer und immer wieder ab. Tóth reibt jetzt das Mikrofon an ihrem Wasserglas. Das Ergebnis ist ein helles Kratzen, das hart klingt, aber tatsächlich irgendwie auch gläsern. Eine Plastiktüte, ihre Zähne und immer wieder ihre Stimmbänder: Loop für Loop legt die Dichterin übereinander, bis die kleine blaue Station auf dem Tisch vor ihr ein Labyrinth aus Sounds abspielt. Die hin und her flackernden Bilder auf der Leinwand beginnen sich mit den Geräuschen zu verbinden. Mal klingt es wie ein Tierkonzert in einem sonderbaren Urwald. Bei einem weiteren Text löscht Kinga Tóth alle Geräusche, nimmt ganz neue Sounds auf. Nun streifen Wind und Regenwolken über eine Ruinenlandschaft – oder jedenfalls tun sie das vor dem inneren Auge der ZuhörerInnen.

Nach einigen Minuten hört Tóth bei jedem Text auf, neue Loops zu erzeugen. Sie nimmt einen Zettel und liest mit deutlicher Stimme, die dennoch gegen den Hintergrund aus Klang anschwimmt: »Neue Identität. Wir bauen eine neue Identität. Hier kommt eine neue Stadt. Wir bauen eine neue Stadt.« Ihre Worte, die Sounds und die Bilder verbinden sich zu einem Ganzen. Manchmal blitzen Bedeutungsebenen nur kurz auf und verschwinden wieder. Dann wiederum kristallisiert sich ein stabiles Gefühl heraus, das einen Text lang anhält. Mitunter ist die Wirkung fast dieselbe wie bei den seltsamen ASMR-Videos im Internet, in denen leise gehauchte Texte manchen ZuhörerInnen ein angenehmes Entspannungsgefühl verschaffen und niemand weiß, wieso.

Kinga Tóths ungarischer Akzent fügt der Performance eine weitere Bedeutungsebene hinzu. In einem Text korrigiert sie immer wieder vorher geäußerte Grammatik- oder Aussprachefehler im Deutschen mit einem laut eingeworfenen »Fehler!« Auch das ist Teil der Inszenierung. Die harsche Zurechtweisung an sich selbst bildet einen krassen Kontrast zum beinahe kindlichen Sing-Sang, mit dem andere Passagen des Textes vorgetragen werden. Insgesamt drei Videos verwendet Kinga Tóth im Laufe der halbstündigen Performance. Das zweite zeigt Fantasiezeichnungen, das dritte Abbildungen von Körperteilen, einer Wirbelsäule, einem Gehirn, einem Uterus. Auch Schrift ist mitunter zu sehen, »Schlangenfrau« steht da einmal kurz erkennbar. Dann zieht die Kamera zum nächsten Bild.

Der Applaus am Ende des Abends ist groß. Später binden Anna Bers und Kinga Tóth dann auch die ZuschauerInnen ein, Fragen an die Künstlerin werden reichlich gestellt. Wenn Graphik, Text und Sound ihre Kinder wären, welches wäre dann ihr Lieblingskind, will jemand wissen. Tóth kann es nicht sagen, sie liebe alle diese Kinder gleich stark. Ob sie ihre Kunst als politisch betrachte? Nicht in dem Sinne, dass sie Pamphlete verfassen würde, sagt die Dichterin, auch wenn ihr voriger Gedichtband Party durchaus Themen wie häusliche Gewalt oder Rechte für Homosexuelle und Trans*-Menschen behandelt. Das Politische sei für sie darin zu finden, dass Abgrenzungen zwischen Sprachen und Gattungen überwunden werden und damit das eigene Tun nicht von gesellschaftlichen Konventionen bestimmt wird.

Schließlich bedankt sich Anna Bers bei der Lyrikerin für den Abend. Die Fragerunde kann leider nicht weitergeführt werden, Tóth muss zum Zug nach Berlin, wo sie tags darauf ihre nächste Performance präsentiert. Als sie ihren Rollkoffer schon ratternd über den Nikolaikirchhof Richtung Bahnhof gezogen hat, stehen die BesucherInnen immer noch vor der Glastür des P-Cafés und reden über den Abend. Es scheint, als habe er Eindruck hinterlassen.

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