Große Player

Der Kunsthistoriker Oskar Bätschmann zeigt in Das Kunstpublikum: Eine kurze Geschichte, wie wichtig das Publikum für die Kunst war und nach wie vor ist. Bisher wurde das Kunstpublikum in der Forschung nicht genügend berücksichtigt. Das will der Schweizer ändern.

Von Malin Friese

Bild: via Pixabay, CC0 (Ausschnitt)

»Ohne das Publikum ist alles tot!« (Hilaire Sazerac, 1834). So untersucht der Schweizer Kunsthistoriker Oskar Bätschmann in Das Kunstpublikum: Eine kurze Geschichte, welche Rolle das Publikum vom 4. Jahrhundert vor Christus bis heute für die Kunst spielt.
Heutzutage geht es bei der Kunst anscheinend nur noch um die Aufmerksamkeit des Publikums, denn der Mainstream entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Die Anzahl der Reaktionen auf ein Kunstwerk in den sozialen Medien übersteigt bei weitem die Anzahl der Kommentare in früheren Besucherbüchern der Museen. Beispielsweise erreichte die Kunstauktion am 9. November 2015 von Amadeo Modiglianis Gemälde Nu couché globale mediale Aufmerksamkeit aufgrund des erstaunlichen erzielten Betrages von 170.405 US-Dollar. Am Wettbewerb um Aufmerksamkeit im globalen Kunstbetrieb beteiligen sich Künstler:innen, Händler:innen, Sammler:innen, Messeveranstalter:innen, Medien, Social Media, Verlage, Autoren:innen, Trittbrettprofiteure usw. Wer hier einen großen Aufmerksamkeitswert erkämpft, gilt in den Medien als »Player« oder als »Big Player«.

Bei diesem ganzen Trubel um Geld und Ansehen wird oft vergessen, dass es den Künstler:innen nicht immer um die Aufmerksamkeit des Publikums ging. Daran erinnert Oskar Bätschmann in Das Kunstpublikum: Eine kurze Geschichte (2023, Hatje Cantz Verlag), indem er das Verhältnis zwischen dem Kunstpublikum und den Künstler:innen über die Zeit hinweg analysiert. Dabei macht er bereits zu Beginn deutlich, dass es kaum ausreichende Forschung zum Einfluss und zu der Vielfältigkeit des Publikums gibt. Zwar erstelle die Kunstsoziologie statistische Analysen, aber das reiche bei weitem noch nicht aus. »Das Kunstpublikum« sei in Wirklichkeit weder einheitlich noch organisiert, auch wenn in den vergangenen Jahrhunderten und auch heutzutage immer noch von diesem Kollektivsingular gesprochen werde.

Der Einfluss des Publikums

Anhand anschaulicher Beispiele und Abbildungen stellt Bätschmann die Rolle des Publikums für die Kunst über Jahrhunderte hinweg dar. Er bedient sich sprachlicher und bildlicher Dokumente, um diese zu analysieren und Fragen bezüglich des Publikums aufzuwerfen. Zum Beispiel: Lässt sich das Verhalten von Menschen in Stadien, Musikhallen oder Theatern tatsächlich auf das Kunstpublikum übertragen? Zu Beginn werden Fotographien des Fotographen Thomas Struth abgebildet, der das Museumspublikum, Besuchergruppen und einzelne Personen vor Gemälden und Skulpturen fotografiert hat. Dabei stellt Bätschmann die Frage, ob wir das Kunstpublikum für eine Vervielfältigung der Betrachterin oder des Betrachters halten können.

Dass die Einstellung gegenüber dem Publikum ambivalent ist, zeigt Bätschmann noch vor seinem Prolog anhand ausgewählter Zitate von Plinius d. Ä. aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. bis hin zu gegenwärtigen Kolumnen über Kunst aus dem Jahr 2018. Diese Zeitreise aus Zitaten beschreibt Künstler:innen, die ihre Werke vom Publikum bewerten ließen, und Kunstwerke, die das Publikum regelrecht anzogen. Die Zitate bilden den roten Faden von Bätschmanns historisch geordneter Zusammenfassung, da er in den einzelnen Kapiteln auf jeweils eines davon Bezug nimmt. Das wohl zutreffendste Zitat ist vom Pariser Kritiker Hilaire Sazerac aus dem Jahr 1834: »Ohne das Publikum ist alles tot!«.

Das emotionale Publikum

Seit mehr als zweitausend Jahren wird versucht, die Frage zu beantworten, ob die Einzelnen im Kunstpublikum hinsichtlich ihrer Emotionen unabhängig voneinander reagieren oder ob eine gegenseitige Beeinflussung stattfindet. Ein Versuch, um das Publikum direkt mit der Künstlerin zu verbinden, unternahm Marina Abramović am 14. März 2010. Bei ihrer Performance »The Artist is present« im Museum of Modern Art in New York durfte sich immer eine Person vor sie auf einen Stuhl setzen. Diese musste den Blickkontakt halten und durfte die Künstlerin weder berühren noch mit ihr sprechen. Die unmittelbare Konfrontation mit der Künstlerin rief bei den Rezipient:innen starke Emotionen hervor.

Emotionale Reaktionen des Publikums sind keine auf die Gegenwart beschränkte Erscheinung. Gerüchten zufolge soll Berninis Skulptur Apoll und Daphne im Jahr 1624 zu Aufständen und Geschrei geführt haben. Auch andere Dokumente überliefern frühere Streitigkeiten und sogar Schlägereien, weil sich das Publikum aufgrund eines Kunstwerks in zwei Parteien aufteilte. Diese sensationellen Attraktionen waren damals eine Seltenheit, heutzutage dagegen scheint sich vieles um solche Sensationen zu drehen. Zum Beispiel löste der 2006 verfilmte Bestseller The Da Vinci Code von Dan Brown einen regelrechten Hype für die Mona Lisa im Louvre aus und zieht seitdem Millionen von Touristen an.

Die Urteilskonkurrenz

Oskar Bätschmann
Das Kunstpublikum.
Eine kurze Geschichte

Hatje Cantz Verlag:
Berlin 2023
200 Seiten, 54 Abb., 24,00 €

In der Vergangenheit wie heute wird die Urteilskompetenz des Publikums infrage gestellt. Bätschmann nennt dies das »Apelles-Problem«, das auf den griechischen Maler Apelles aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Bezug nimmt. Dieser wählte für seine Werke ein Publikum aus zufälligen Passanten aus und ermunterte sie zum Urteilen, jedoch kam es aufgrund der Urteilskonkurrenz zwischen Künstler und Publikum zu Streitigkeiten. Auch heutzutage bleibt die Frage kontrovers, ob es Laien zusteht, künstlerische Arbeiten zu beurteilen, oder ob die Beurteilung den Künstler:innen vorbehalten ist.

Nichtsdestotrotz macht Bätschmann deutlich, wie wichtig das Publikum für die Kunst in jedem Jahrzehnt war und nach wie vor ist. Ob das Publikum gerührt war, trauerte, lachte oder spottete, ob die Künstler es ästhetisch erziehen oder sich über die Meinung des Publikums erheben wollten – der bedeutende Einfluss des Publikums auf die Kunst ist nicht zu leugnen. Die heutige mediale Aufmerksamkeit und die »Big Player« der Kunstwelt stellen nur einen Teil des riesigen Publikums dar. Der Schweizer Kunsthistoriker hat einen wichtigen Impuls gegeben, damit die Forschung über das Kunstpublikum weiter ausgebaut und vertieft werden kann.

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