Gnadenlos und doch versöhnlich

Ein egozentrischer Schriftsteller, eine erfolgreiche Schauspielerin und eine feministische Aktivistin – in Virginie Despentes’ Liebes Arschloch geraten drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, im digitalen Raum aneinander – und müssen erkennen, dass es letztlich nicht Wut ist, die Veränderung bewirkt, sondern Versöhnung.

Von Jana Kipry

Bild: via Pixabay, CC0

Virginie Despentes’ neuester Roman Liebes Arschloch, ins Deutsche übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis, behandelt zeitgenössische gesellschaftliche Themen wie Sexismus, Machtmissbrauch, Klassismus, toxische Männlichkeit, Feminismus, Drogen, Soziale Medien – und in jeder Zeile erkennt man zunächst vor allem eines: Abneigung, Misstrauen, Wut. Und doch endet der 2023 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienene Roman mit einem versöhnlichen Ton, der zur gegenseitigen Toleranz mahnt.

Der moderne Briefroman, bestehend aus einer Sammlung von Social-Media-Posts und E-Mails, beginnt mit einem reißerischen Instagrampost des Schriftstellers Oscar Jayack über die rund fünfzig Jahre alte Schauspielerin Rebecca Latté – eine fiktive Berühmtheit, die in der Welt des Romans auf die gleiche Ebene wie Béatrice Dalle und Lydia Lunch gesetzt wird. Jayack bezeichnet sie als »auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück.« Doch darauf weiß Latté die passende Antwort und sie beginnt sie mit dem Gruß »Liebes Arschloch«: »Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep, ich bin ein kleiner Angsthase, für den sich niemand interessiert, und winsle wie ein Chihuahua, weil ich davon träume, dass man mich bemerkt.«

Das »Arschloch« ist hier zu verstehen als der Inbegriff eines weißen Mannes Mitte vierzig, der sich nicht nur als egozentrischer Alkoholiker, sondern auch bald als – seiner Ansicht nach – »Opfer von #MeToo« offenbart. Die Anschuldigungen stammen von der jüngeren Zoé Katana, die online einen radikal feministischen Blog führt; monatelang soll Jayack seine Position als bekannter Autor ausgenutzt und Katana, die damals als Pressereferentin arbeitete, auf das Heftigste bedrängt und gestalkt haben. Jayack weist diese Vorwürfe zunächst von sich, wähnt sich als unschuldiger Verliebter und als Opfer der ›Cancel Culture‹.

Von »Liebes Arschloch« zu »Kamerad«

Katana nimmt, obwohl mit ihren Vorwürfen gegen Jayack und wiederkehrenden feministischen und gesellschaftskritischen Posts maßgeblich handlungstreibend, eine vergleichsweise untergeordnete Position in dem im Roman stattfindenden Austausch ein. Vielmehr drängt sich mit der Zeit die Beziehungsentwicklung der anderen beiden Hauptfiguren in den Vordergrund, die unter anderem durch Katanas Aussagen auf Social Media beeinflusst wird. Aus den anfänglichen Hassnachrichten zwischen Latté und Jayack entwickelt sich mit der Zeit ein weit tiefergehendes Verhältnis: Sie debattieren unter anderem über Künstlertum, Feminismus, Sexualität und den Schönheitswahn. Mit zunehmender Vertrautheit begrüßt Latté Jayack in ihren Nachrichten mit »Kamerad«.Besonders an ihrem Austausch ist, dass Jayack eine intensive Wandlung vollzieht, vom uneinsichtigen »Arschloch« zum reuevollen Täter, der seine Handlungen anerkennt und Verantwortung übernehmen will.

Die Perspektive, die Despentes wählt, ist riskant – aber genial in ihrer Umsetzung: Ist Jayack zunächst ein unangenehmer und egoistischer Zeitgenosse, entwickelt man als Leser:in mit der Zeit Sympathien und Verständnis, sogar Respekt für seinen mühevollen Weg der Besserung. Als übergreifendes Motiv des Romans spielen auch Drogenkonsum und Entzug eine bedeutende Rolle.

Der Weg aus der Abhängigkeit

Die Freundschaft, die letztlich zwischen Latté und Jayack entsteht, fußt nicht nur auf einer gemeinsamen Vorgeschichte, sondern auch und insbesondere auf ihrem Drogenkonsum. Beide machen es sich zur Aufgabe, clean zu werden, und nehmen an Treffen der »Narcotics Anonymous« teil. Der Entzug stellt sich als zentraler Schritt heraus, der es Jayack nicht nur ermöglicht, vorherige Handlungen zu hinterfragen, sondern auch das Verhältnis zu seiner Tochter zu verbessern und letztlich Katana um Entschuldigung zu bitten.

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Virginie Despentes
Liebes Arschloch

Übersetzung: Ina Kronenberger, Tatjana Michaelis
Kiepenheuer&Witsch: Köln 2023
336 Seiten, 24,00 €

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Aussagen über die Wirkung der Corona-Pandemie, denn der Roman, dessen Handlung sich über mehrere Monate, wenn nicht Jahre erstreckt, verhandelt auch die Auswirkungen der ergriffenen Maßnahmen. Für Jayack und Latté bedeutet das Social Distancing vor allem eines: Weniger Ausgehen und somit weniger Versuchung, in geselliger Runde Drogen zu konsumieren. So stellt Latté später fest: »Die Lockdowns haben mir geholfen durchzuhalten. Dieses Virus hat alles auf dem Planeten versaut – und uns, uns hat es geholfen.«

Zwischendurch mutet der Roman durchaus wie ein Begleitbuch für einen Drogenentzug an. Immer wieder ist die Rede von »wegballern«, »zudröhnen« und der Intensität der Drogenerfahrung, die jedoch nicht verherrlicht wird. Wiederholt werden zudem Mobbing, Suizidgedanken, Depressionen und verschiedene Formen des Missbrauchs thematisiert, was den Roman zu einem brutalen und unzensierten Abbild einer feindseligen Welt macht. Und zwischen all dem offenbart sich – und das ohne übermäßig in Kitsch zu verfallen –, dass gegenseitiges Verständnis und Veränderung möglich sind.

Eine gemäßigte Skandalautorin

Virginie Despentes galt einst als Skandalautorin der französischen Literaturwelt. Im Vergleich zu ihrem Debütroman Baise-moi (1994), zu Deutsch Fick mich!, dessen Verfilmung unter anderem für die expliziten Darstellungen von Mord und Vergewaltigungen Aufsehen erregte, erzählt ihr neuester Roman eine wenig gewaltsame und dennoch ungeschönte Geschichte. Die Sprache ist grob und direkt. In jeder Zeile stecken Wut und der Wille zu Veränderung. Und das zum großen Teil aus der Sicht einer Figur, die als Verkörperung einer patriarchalen Maskulinität gilt, die gleichzeitig angeprangert und aufgelöst wird.

Wer sich das Cover des Romans genauer ansieht, wird vielleicht erkennen, dass Despentes’ Vorname fehlt und sie nur mit ihrem Nachnamen als Autorin des Buchs bezeichnet wird. Bereits bei ihrer erfolgreichen Trilogie Das Leben des Vernon Subutex (2015–2017) verzichtete Despentes auf die Nennung ihres vollständigen Namens, der sie als Frau ausweisen würde. Der Grund: um mehr männliche Leser anzusprechen. Ob dieser Effekt auch bei Liebes Arschloch funktioniert, sei aufgrund Despentes’ heutiger Bekanntheit dahingestellt, doch eröffnet sich dadurch vielleicht die Möglichkeit, genau die Zielgruppe anzusprechen, die Oscar Jayack verkörpert – und damit auch eine Perspektive des Austauschs und der Sensibilisierung, die in heutigen gesellschaftlichen Debatten mehr denn je nötig ist.

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