Geschichten vom Schweigen

Ulrike Draesner gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart und beschäftigt sich in ihren Werken mit den Folgen des gewaltsamen 20. Jahrhunderts. In ihrem Roman Die Verwandelten gibt sie Frauen eine Stimme, um ihren Horror und ihr Leid während des Zweiten Weltkriegs zu beleuchten.

Von Nele Schlemme

Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F051638-0063 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Mit Die Verwandelten veröffentlichte Ulrike Draesner 2023 einen Roman, der auf 600 Seiten zeigt, was Krieg mit Menschen macht. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik, erzählt der Roman die Geschichte dreier verschiedener Generationen von Frauen, die auf völlig unterschiedliche Weisen Spuren des Zweiten Weltkriegs in sich tragen. Durch einige mehr oder weniger zufällige Begegnungen treffen die Frauen im Laufe ihres Lebens immer wieder aufeinander und nehmen durch ihre eigenen, persönlichen Geschichten Einfluss aufeinander – und in gewisser Hinsicht auch auf die Leser:innen, da man sich beim Lesen seltsam berührt fühlt.

Die Handlung des Romans dreht sich um die Familien Valerius und Schücking. Doro und Kinga, beide Kinder von Kriegskindern, sogenannte Nebelkinder, lernen sich bei einem Vortrag kennen und merken schnell, dass ihre Mütter, Walla und Alissa, eine gemeinsame Vergangenheit teilen, die nach und nach aufgedeckt wird. Es stellt sich schließlich heraus, dass Kinga und Doro miteinander verwandt sind, da sie den gleichen Großvater, Marolf, haben. Während Walla jedoch ein eheliches Kind war, ging Alissa, Kingas Mutter, aus einem Verhältnis dessen mit einer angestellten Köchin hervor. Beide wuchsen trotzdem gemeinsam auf, bis Alissa schließlich mit vier Jahren nach Lebensborn gegeben wurde, da die Umstände im Haus nicht mehr tragbar waren. Danach verloren sie sich aus den Augen.

Was bei der Lektüre des Romans außerdem sofort deutlich wird, ist das Schweigen, das sich leitmotivisch durch die komplette Handlung zieht. Kinder, die während des Kriegs aufwuchsen, haben gelernt, keine Fragen zu stellen und möglichst wenig über die eigene Person preiszugeben, da jede persönliche Information eine Gefahr mit sich brachte. Somit erzählen die jetzigen Mütter nur ungern ihre Geschichte, auch lange nach dem Krieg blieb man vorsichtig. Ob Liebschaften zwischen Angestellten und Dienstherren, Zweckehen von ›einfachen‹ Frauen und hohen Kriegsoffizieren oder auch die wirklich wahren Gefühle – auf der Suche nach alten Geheimnissen kommt einiges ans Licht.

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Ulrike Draesner
Die Verwandelten

Penguin: München 2023
608 Seiten, 26,00€

Die Nationalsozialisten weiten ihre Kontrolle aus

Ein weiteres zentrales Thema des Romans stellt Lebensborn dar, ein 1935 von der SS gegründeter Verein, um ›arischen‹ Frauen eine Geburt in den Lebensborn-Heimen zu ermöglichen und so die Geburtenziffer von ›arischen‹ Kinder zu erhöhen. Unverheiratete Frauen und Mädchen konnten anonym entbinden und die Kinder wurden daraufhin zur Adoption freigegeben, bevorzugt an Familien SS-Angehöriger. Lebensborn war jedoch auch verantwortlich für die Verschleppung der Kinder aus den von Deutschland besetzten Gebieten. Galten diese als ›arisch‹, wurden sie ebenfalls an Anhänger Hitlers vermittelt. Erfüllten sie die notwendigen Kriterien jedoch nicht, wurden sie in verschiedene Lager deportiert. Die Geburt und Adoption durch ein Lebensborn-Heim betrifft auch Alissa, wodurch man einen persönlichen Einblick in die damals herrschenden Zustände erlangt.

Der Roman ist geprägt von den verschiedenen Erzählstimmen. Jedes Kapitel wird aus der Sicht einer der Frauen zu unterschiedlichen Zeiten erzählt, sodass der Roman gleich mehrere Sichtweisen und Erfahrungen, geprägt durch die Kriegs- und Nachkriegszeit, beleuchtet. Hierbei wird vor allem die tiefgehende Recherche Ulrike Draesners deutlich, da man die Figurenbiographien durch ihre Komplexität durchaus für wahr halten könnte. Ohne auf starke Gewaltdarstellungen zurückzugreifen, schafft es die Autorin, den Schrecken und die Ängste der Frauen in Worte zu fassen, die im Kopf der Leser:innen Bilder entstehen lassen. Problematisch am ganzen Roman könnte jedoch sein, dass die Frauen sehr stark die Opferrolle annehmen, sodass Empathie hier fast erzwungen scheint. Das ist jedoch ein verhältnismäßig kleiner Makel an einem ansonsten realistisch und eindringlich gestalteten Werk. Draesners Schreibstil ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, da sich in ihren Sätzen mehr verbirgt, als es scheint, wodurch Leser:innen eine hohe Dichte an Informationen verarbeiten müssen. Außerdem werden häufig schlesische Ausdrücke eingestreut, was den Roman sehr authentisch macht, jedoch auch an einigen Stellen den Lesefluss unterbricht. Je länger man sich jedoch mit dem Roman beschäftigt, desto vertrauter werden Schreibstil und Sprache und sorgen für ein tiefes Textverständnis.

Durch die verschiedenen Namen der Frauen, die sich im Laufe ihres Lebens und somit auch im Verlauf des Romans mehrmals ändern, um entweder den Neubeginn in einem fremden Land zu erleichtern oder weil Kinder, die von Anhängern Hitlers adoptiert wurden, einen neuen ›arischen‹ Vornamen brauchten, fällt es beim Lesen manchmal schwer, den Überblick zu behalten. Um eine leichte Lektüre handelt es sich bei Die Verwandelten nicht, es lohnt sich jedoch, sich in das Leben der Frauen hineinzuversetzen, zu versuchen, die Umstände und Entscheidungen nachzuvollziehen und somit ein besseres Verständnis für diese zu entwickeln, während man gleichzeitig das eigene Leben zur heutigen Zeit mehr zu schätzen lernt.

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