Roman, Essay, Abenteuerbuch, Erzählung – Saša Stanišić nutzt in Herkunft die verschiedensten Genres, um über seine Heimaten zu schreiben und dabei mit viel Humor die Grundfragen von Identität zu reflektieren. Damit ist er nun auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Von Miriam Weinrich
Bild: von Rüdiger Stehn via flickr, CC BY-SA 2.0, cropped
In seinem neuesten Buch reflektiert Saša Stanišić Fragen nach seiner Herkunft, seiner Familie und seiner Identität. Auf 350 Seiten sammelt er Antworten, Erinnerungen, Anekdoten und Überlegungen, verknüpft fiktionale Erzählung mit faktualen Berichten, kombiniert verschiedene Stimmen und Stilrichtungen miteinander, verwebt seine Erlebnisse mit denen seiner Großmutter und schreibt dabei auf literarisch höchstem Niveau über die Grundfragen von Identität.
Herkunft beginnt mit einem Brief an die Ausländerbehörde mit dem Zweck, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen; gefordert ist ein handgeschriebener Lebenslauf (»Riesenstress!«). Da die zuerst angelegte und in solchen Fällen wohl übliche Tabelle jedoch nichts mit ihm zu tun zu haben schien, schrieb Stanišić stattdessen ausführlich von dem Gewitter, das in der Nacht seiner Geburt tobte, und vom Goldzahn seiner Großmutter, wegen dessen er sich als Kind einen Schneidezahn mit gelbem Filzstift anmalte.
Saša Stanisić
Herkunft
Luchterhand: München 2019
368 Seiten, 22,00€
Der Brief als Form ist das erste einer ganzen Reihe von Genres, die Stanišić nutzt, um von Herkunft zu erzählen – oder besser gesagt von Herkünften. Denn Herkunft, so wird schnell deutlich, konstruiert sich aus den persönlichen Erinnerungen, aber auch aus kollektiven Legenden, Fantasie und Fiktion, die sich überlagern, überschreiben und nebeneinander existieren, ohne sich gegenseitig auszutauschen.
Autobiographischer Roman?
Ein autobiographischer Roman? – Zunächst scheint das Buch genau das zu sein: Stanišić erzählt mit viel Humor von seiner Kindheit in Jugoslawien, das er mit seiner Mutter 1992 verlässt und von seiner Ankunft und seinem Leben in Deutschland. Der Krieg und die Flucht bleiben eine Leerstelle, die Stanišić nur andeutet, etwa wenn er beim Anblick des Schlosses in Heidelberg erklärt, bis dahin viele zerstörte Häuser gesehen zu haben, aber niemals eine so alte Ruine und dass er sich bei diesem Anblick zum ersten Mal sicher fühlte:
Er lernt, dass die Häkchen in seinem Namen seine Herkunft verraten, die mit Krieg und Massakern assoziiert wird und ihn als Geflüchteten zu erkennen gibt. Weil Slowenien am wenigsten in den Schlagzeilen auftauchte, gibt er sich bei neuen Bekanntschaften manchmal als Slowene aus, dessen Vater eines lukrativen Jobangebots wegen nach Deutschland gekommen wäre und behauptet, vor allem die Alpen zu vermissen (denn »das Vermissen der Alpen, lernte ich, kommt in Deutschland extrem gut an«).
Stanišić berichtet von der Angst vor Abschiebung und davor, den deutschen Vorurteilen entsprechen zu können. Seine Freizeit verbringt er in Emmertsgrund vor allem an der ARAL-Tankstelle, »der sozialen Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte«. Denn dort treffen sich alle: »Bosnier und Türken, Griechen und Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche«. Hier war Sašas Herkunft nur eine Randnotiz, nicht weiter bemerkenswert. Später, vor allem während seines Studiums und bis heute als einer der wichtigsten und witzigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, ist sie oft der Mittelpunkt des Interesses.
Reisebericht?
Mit den autobiographischen Kapiteln verschränkt erzählt Stanišić von seiner Großmutter Kristina, die in Višegrad blieb. 2009 besuchte er sie und bereiste die Orte seiner geographischen Herkunft. Er reflektiert die Erfahrung, auf dem Friedhof größtenteils seinen Nachnamen zu lesen, überall als »einer von hier« herzlich empfangen zu werden, aber auch die Portraits von Kriegsverbrechern im Regal seiner Oma zu entdecken.
Nicht nur während dieser Reise taucht Kristina immer wieder als zweite Protagonistin auf. Sie verliert nach und nach ihre Erinnerungen, verwechselt ihre Familienangehörigen, lebt in anderen Zeiten ihres Lebens. Die Demenz seiner Großmutter bietet ihm eine neue Perspektive auf die Frage der Herkunft. Sie wird damit über eine bloße räumlich-geographische Zugehörigkeiten hinausgehoben. Denn auch wenn Kristina ihr Leben lang in Višegrad geblieben ist, verliert sie mit ihrer Erinnerung Stück für Stück ihre Herkunft. Dieser Verlust ist nicht an Krieg und Flucht, nicht an den Verlust von Besitz, Status oder Wohnort gebunden. Die Frage nach Herkunft ist also ausdrücklich nicht nur eine Frage von Vertriebenen.
Politisches Essay?
Immer wieder wird die poetische Erzählweise unterbrochen, fast schon abgebrochen von nüchtern-essayistischen Einschüben, die sich als faktisch-aufzählende Zusammenfassungen lesen. Ein Stilmittel, auf das Stanišić vor allem bei Schilderungen von Gewalt zurückgreift. Wenn er beispielsweise (was nur selten vorkommt) explizit von Kriegsgeschehnissen schreibt, erfolgt dies nicht in poetischer Sprache, sondern in Berichten wie:
Genauso sachlich berichtet er von den Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte zu Beginn der 1990er Jahre in Deutschland, die er in Beziehung setzt zu aktuellen Angriffen der Gegenwart. Der Satzbau ist der gleiche – Stanišić nennt das konkrete Datum und anschließend die gewaltsamen Vorgänge. Beispielsweise
Diese Passagen reißen den*die Leser*in unvermittelt aus der Erzählung, die Stanišić sonst auch bei beängstigenden oder bedrohlichen Erlebnissen mit viel Humor schreibt. Doch der Anlass erlaubt hier keine poetische Darstellung. Deshalb greift er auf die Fakten zurück – und könnte kaum ein größeres Erschrecken erzielen. Der brutale Bruch mit der Erzählung unterstreicht die Brutalität der Ereignisse. Diese Technik verwendet Stanišić jedoch auch, wenn er vom politischen Erstarken rechtspopulistischer Parteien schreibt:
Auch an dieser Stelle wird der poetische Schreibstil unterbrochen, es entsteht eine Pause im Text. Hier jedoch nicht, um die Lesenden mit konkreten Fakten von Gewalt und Krieg zu konfrontieren, sondern um eine politische Haltung zu verdeutlichen, die auch ohne Einschübe durch die Gesamtaussage des Buches deutlich wird.
Choose-Your-Own-Adventure?
Als sei dieser bewusste Mix verschiedenster Formen nicht bereits bunt genug, überrascht Stanišić auf den letzten ungefähr 50 Seiten mit einem weiteren, völlig anderen und außerhalb von Kinderbuch und Rollenspiel seltenem gelesenen Genre: Dem Choose-Your-Own-Adventure. Dabei kann sich der*die Leser*in selbst entscheiden, wie er*sie in der Situation vorgehen würde und den Verlauf der Geschichte so aktiv mitgestalten. Ausgangspunkt der Handlung, die unter dem Titel »Der Drachenhort« einen abgegrenzten Teil des Buches bekommen hat, ist ein Besuch bei der Großmutter im Altenheim, die den Erzähler für ihren seit langem verstorbenen Ehemann hält. Nun kann der Leser entscheiden, ob er seine Großmutter erinnert: »Ich bin es Oma. Saša« – lies weiter auf Seite 295.« Oder ob er lügt und behauptet, »Ja, ich bin es.« Dann lies weiter auf Seite 342.«
Die Geschichte lässt insgesamt zehn verschiedene Enden zu und es macht viel Spaß, zu versuchen, alle möglichen Variationen der Geschichte gelesen zu haben. Das könnte leicht als literarische Spielerei oder als lauer Gag abgetan werden. Doch nichts könnte falscher sein. Bei mehrmaligem Lesen einer Geschichte, die in Teilen oder auch im Gesamten immer anders verläuft, lässt sich schnell der Effekt herbeiführen, dass man die einzelnen Geschichten nicht mehr voneinander unterscheiden kann, sie sich überlagern und ineinandergreifen – ähnlich wie bei Großmutter Kristina. Damit erbringt Stanišić den perfomativen Beweis für seine Herkunfsthese.