Anika Landsteiners Sorry not sorry widmet sich der weiblichen Scham, wobei die Kapitel eher einer allgemeinen Gedankensammlung zur patriarchalen Unterdrückung ähneln. Das Buch bietet wertvolle Impulse für den Einstieg in feministische Themen, welche durch den nahbaren Schreibstil leicht konsumiert werden können.
Von Sandra Weigant
Frauen sind in medizinischen Studien und Führungspositionen unterrepräsentiert, verdienen immer noch weniger als Männer und alle drei Tage wird eine Frau durch ihren Ehemann getötet. So weit, so schrecklich, aber bisher nichts Neues. Anika Landsteiner versucht in Sorry not sorry – Über weibliche Scham all diese Bereiche patriarchaler Unterdrückung aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten; die weibliche Scham fungiert als roter Faden. So zeigt Landsteiner, wie Frauen durch Scham zum Schweigen gebracht werden oder sich durch Scham nicht trauen, mehr Gehalt für gute Arbeit zu verlangen. Anhand persönlicher Erlebnisse schildert die Autorin, für welche Situationen sie oder Frauen in ihrem Umkreis sich geschämt haben. Sie teilt ihre Gedanken, psychologische Erkenntnisse und Studien zu Themen wie Gewalt, Sexualität, dem Single-Sein oder dem Altern. Es sind Themen, die alle betreffen, aber Frauen auf eine spezifische Art. So schildert sie beispielsweise, dass insbesondere Frauen seit der frühesten Kindheit lernen, sich für ihren Körper zu schämen: » [M]it Anfang zwanzig war ich ungefähr so im Reinen mit meinem Körper wie Luisa Neubauer mit den Ergebnissen des letzten Klimagipfels«.
Ihr eleganter Ansatz einer neuen, verbindenden Perspektive passt für viele Themen sehr gut, teilweise geht die titelgebende weibliche Scham jedoch unter. So beispielsweise in der 23-seitigen Passage über Reality-TV mit Unterkapiteln wie Den eigenen Horizont erweitern oder Reichtum verstehen. Die dezidiert weibliche Scham kommt hier nicht vor. Es geht vielmehr um geschlechterunabhängige Fremdscham, das Schämen über die eigenen Sehgewohnheiten und was aus Formaten wie Selling Sunset über verschiedene Lebensrealitäten gelernt werden kann:
Das Kapitel führt damit weg vom eigentlichen Thema und wirkt im Gesamtkontext der Sammlung irritierend. Verabschiedet man sich jedoch von der thematischen Erwartung, die der Titel weckt – einer expliziten Untersuchung der weiblichen Scham, ihrer Beschaffenheit, Geschichte und ihrer facettenreichen Auswirkungen –, lassen sich die Essays als sehr anschauliche Gedankensammlung zum Frausein im patriarchalen System fassen.
Zwischen persönlichen Überlegungen und wissenschaftlichem Anspruch
Die besondere Stärke der Essay-Sammlung, das Zusammenspiel aus persönlicher Erfahrung und wissenschaftlichen Informationen, stellt gleichzeitig ihre Schwäche dar. Die persönlichen Erlebnisse der Autorin bieten Nah- und Greifbarkeit der Themen, gelegentlich unterstützt durch Forschungsergebnisse oder einschlägige Zitate. So erzählt Landsteiner im Kapitel Hit me, baby, one more time! etwa über ihre Erfahrungen mit der Erkrankung Endometriose. In dem Kapitel werden einige Quellen angegeben, darüber hinaus sind medizinische Erklärungen vorhanden. Den Großteil bilden jedoch die Überlegungen und Erkenntnisse der Autorin. Dies sorgt dafür, dass der gesprächsgleiche Schreibstil nicht gestört wird, bietet jedoch zu wenig „Futter“, um sich fachlich tiefgreifend über die genannten Phänomene zu informieren.
Gleichzeitig offeriert die Autorin nicht genügend innovative Überlegungen, als dass Sorry not sorry beispielsweise aus philosophischer oder kulturanthropologischer Sicht genügend neue Erkenntnisse über den Begriff und die Beschaffenheit der weiblichen Scham liefern könnte. Dafür bietet Landsteiners Werk andere Vorzüge.
Für wen die Essays geeignet sind und …
Wer sich bisher nicht mit Feminismus beschäftigt hat, wird in diesem Buch einen guten, leicht verständlichen und vielseitigen Überblick der patriarchalen Unterdrückung finden. Die inhaltlichen Punkte werden eindrücklich geschildert und bieten tolle Inspirationen, um von dort aus in die tiefere Recherche zu gehen. Beispielsweise schreibt die Autorin über das Thema sexualisierte Gewalt und sehr aktuell über die Abschaffung des landesweiten Abtreibungsrechts in den USA. Personen, die sich bereits mit feministischen Themen befasst haben, erfahren dagegen wenig Neues.
… über »weibliche Wut«
Trotzdem hat es die Autorin durch die eindrucksstarke Zusammenstellung der Themen, durch das Bündeln der Ungerechtigkeiten geschafft, meine »weibliche Wut« wieder wach zu kitzeln. Auf diese bezieht sich Landsteiner im Epilog und erklärt sie als ihre Möglichkeit, die Scham zu besiegen.
Durch die Schilderung ihrer persönlichen Erlebnisse animiert die Autorin ihre Leser:innen hervorragend dazu, die eigenen Erfahrungen mit den Ungerechtigkeiten des patriarchalen Systems zu reflektieren. So stellt sich Landsteiners Wut beim Lesen des Buches auch auf Rezeptionsseite ein. Während sie ihre Erfahrungen mit strukturellen Problemen in Verbindung bringt, passiert das Gleiche in der Rezeption. Mir fallen viele patriarchale Verhaltensweisen ein, denen meine Freundinnen und ich ausgesetzt waren; ob gesellschaftliche Probleme in Bezug auf die körperliche Selbstbestimmung oder Erwartungshaltungen an Frauen, die die Verantwortung für übergriffiges Verhalten auf sie übertragen. Auch ich habe mich oft für Dinge geschämt, die mich heute eher wütend machen. Denn: Nein, es ist nicht okay, dass mein Zahnarzt mir auf die Brüste guckt statt ins Gesicht. Nein, der Boomer auf dem Mountainbike soll mich beim Feldspaziergang nicht abschätzig fragen, ob ich keine Angst hätte hier – so allein als Frau. Er wäre ja nicht so leichtsinnig. Und der Typ auf der Dorfparty darf mir auch nicht auf den Arsch hauen, nur weil ich einen kurzen Rock trage.
»Let there be rage«
Landsteiner schreibt: »Ohne die Wut hätten die größten Revolutionen der Menschheitsgeschichte nie stattgefunden.« Und so stellt sich bei der Lektüre immer wieder die Frage: Wieso ist der öffentliche Aufschrei nicht größer? Wie kommt es, dass auf Social Media Phänomene wie die „Stay at home wife“ florieren, die das Hausfrauendasein feiern? Dass die USA das jahrhundertelang erkämpfte Recht auf Abtreibung abschaffen? Die Unterdrückung der Frau ist eine der ältesten Unterdrückungsgeschichten der Menschheit. Wie kann es sein, dass der Protest nicht größer ist?
Vielleicht, weil mit der Feministin eine neue Rolle voller Erwartungen eingeführt wurde, für dessen unperfekte Ausführung sich frau schämen kann. Weil perfekte Mutter, perfekte Karrierefrau, perfekte Partnerin, perfekte Feministin einer zu viel ist? Vielleicht ist nach Jahrtausenden Patriarchat auch ‚normal‘, dass sich nach rund 120 Jahren Frauenwahlrecht noch keine echte Gleichberechtigung etabliert hat? Vielleicht, vielleicht. Klar ist, dass wir uns als Gesellschaft noch immer auf einem steinigen Weg befinden. Und Anika Landsteiner hat mit Sorry not sorry eine solide Zusammenfassung unserer Baustellen vorgelegt.