Nanni Balestrinis Wir wollen alles zeigt, wer hier der Nichtsnutz ist: der eiternde Kapitalismus. In der Reihe Klasse!? folgen wir literarischen und politischen Spuren der Klassengesellschaft, und Balestrini führt geradewegs in den Konflikt.
Von Anna-Lena Heckel
Bild: via Pixabay, CC0; Bearbeitung: Lisa E. Binder und Svenja Brand
»Der Kapitalismus gehört abgeschafft, damit wir wie Menschen behandelt werden und nicht wie Lastochsen. Ein eiterndes, nichtsnutziges System ist der Kapitalismus. Wer will das noch ertragen?«
Diese Forderungen stammen vom Protagonisten von Nanni Balestrinis Roman Wir wollen alles (it.: Voglioamo tutto). Sie sind grundsätzlich und vehement, und das gilt nicht nur für diese Passage, sondern für den ganzen Roman und die Diskurse, die seine historischen Vorbilder darstellen.
Wir wollen alles ist der erste Roman der Trilogie, die Balestrini über den langen italienischen Kampfzyklus 1959 bis 1982 geschrieben hat. Literarisch verarbeitet sind die Auseinandersetzungen bei FIAT in Turin. Damit geht es nicht nur um die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Es geht um die vielen Formen der Unterbrechung, der Widerständigkeit und der Arbeitsverweigerung.
Der Protagonist zieht aus dem Süden Italiens in den Norden, um dort in der Fabrik bei FIAT zu arbeiten. Schon bald fängt er an sich zu widersetzen. Als er sich mit den anderen Arbeitern organisiert, tritt der Wendepunkt ein: Aus alltäglichen Konflikten wird eine ebenso kompromisslose wie konfrontative Bewegung.
Jedenfalls politisch
Nanni Balestrinis Leben ist durch und durch politisch. So ist Wir wollen alles nur eines von mehreren Zeugnissen der literarischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft Italiens. Und auch sonst war sein Leben geprägt von politischem Kampf. Genauso wie Balestrini war auch sein Verlag politisch, gegründet vom Kommunisten Feltrinelli, über den er auch den dritten Band seiner Trilogie verfasste. Die deutsche Übersetzung von Wir wollen alles durch den Autor Peter O. Chotjewitz, Wahlverteidiger und Freund Andreas Baaders, wurde zuerst 1972 bei Trikont und dann wieder, als Trilogie in einem Band, 2008 bei Assoziation A veröffentlicht: Verlage, die – man ahnt es – ein dezidiert politisches Programm haben.
Reihe Klasse?!
Was ist das, eine Klasse? Haben wir alle eine? Wie prägen Klassen und Ideen von Klassen unseren Gesellschaften und den Umgang miteinander? Wie stellt man sie dar? Und wie können wir uns dazu verhalten? In dieser Reihe machen sich die Autor:innen Gedanken über gegenwärtige Gesichter von Klasse und Klassismus. Sie entwickeln sie beispielsweise anhand von literarischen Texten oder Sachbüchern, im Theater, als Forschende und persönlich. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.
Die Biographien von Autor, Übersetzer und Verleger illustrieren die Bedeutung und – zumindest ein Stück weit – die Zielsetzung von Balestrinis literarischer Arbeit. Er zielt auf nicht weniger als die gesellschaftlichen Verhältnisse. Balestrini versucht nicht, ›gute‹ Literatur zu schreiben, die dann ›auch politisch ist‹. Nein, Gegenstand und Ausdrucksweise, ja das gesamte Anliegen ist politisch. Im dokumentarischen Roman sucht er dafür die Form.
Bekanntheit erlangte er entsprechend aus dieser Perspektive der gesellschaftlichen Veränderung, so Raul Zelik in seinem Nachwort zur Trilogie: »Obwohl Nanni Balestrini nie ein Autor von Bestsellern war und auch im Literaturbetrieb keineswegs allgemein bekannt ist, haben sich seine Texte über ganz eigene Kanäle verbreitet. Wer sich für ein Verhältnis von Literatur und Revolte interessiert, für den ist der Name Balestrini ein Begriff.«
Das Verhältnis von Literatur und Revolte ist damit mehr als die Addition von beidem: Aus der Verbindung ergibt sich Balestrini. Zu lesen ist bei ihm kein zaghaftes Abtasten oder Abwägen, keine Reflexion über die Widersprüchlichkeit der Welt, sondern entschlossene Texte, die nach vorne wollen.
Wer kämpft?
Balestrinis Roman ist weit davon entfernt, Klassismus als Diskriminierungsmerkmal zu diskutieren. Vielmehr, so das Vorwort des Autors (übersetzt von Theo Bruns), eignet sich der literarische Text zur Reflexion der Verhältnisse in einer Figur und ihrer Biographie. Im Protagonisten dieses ersten Romans zeigt sich erstens die Verweigerung der Arbeit, zweitens die Kollektivierung dieser Störung von Abläufen und drittens der Bruch mit etablierten Akteur:innen wie den Gewerkschaften und Parteien.
Balestrini schreibt: »Es ging mir darum, eine kollektive Persönlichkeit zu zeichnen, in der sich die Hauptfigur des großen Kampfzyklus jener Jahre verkörperte, die mit neuen Charakteristika, neuen Zielen und neuen Kampfformen die historische Bühne betreten hatte.« Diese Hauptfigur verkörpert den Unterschied zwischen Nord- und Süditalien: Die Perspektive eines süditalienischen Proletariats, jenseits von Stabilität gezwungen zu Gelegenheitsarbeiten und von Kommunistischer Partei wie Gewerkschaften übergangen, soll in dieser »kollektiven Persönlichkeit« ausgedrückt werden. Das stellen sowohl Balestrini in seinem Vorwort als auch der Übersetzer Chotjewitz in seinem Nachwort von 1972 heraus.
Andersherum ausgedrückt: Figuren stehen für Lebens- und Arbeitsbedingungen, sie stehen für Klassen. Damit wird der Konflikt von Arbeiter und Ingenieur zur Klassenauseinandersetzung: »Jetzt mischt der Oberst sich ein und sagt: Sie scheinen nicht zu wissen, dass ich studiert habe. Dass ich Ingenieur bin. Nein, antworte ich, das weiß ich nicht. Aber Sie scheinen nicht zu wissen, dass es uns einen feuchten Kehricht interessiert, ob Sie studiert haben.«
Aber nicht nur die Proletarier aus dem Süden führen die Auseinandersetzungen: »Sogar die jungen Leute lehnen ihn [den Kapitalismus; ALH] ab, sogar die jungen und bürgerlichen Studenten, die wir hier unter uns haben.« Der Roman verwendet den Begriff der Klasse nicht, doch es wird deutlich, dass es sich durchaus um eine politische Entscheidung handelt, welcher Seite der Kämpfe man sich zuordnet: »sogar die jungen und bürgerlichen Studenten« werden Teil der Revolte rund um die FIAT.
Klasse ist also durchaus bestimmt durch die Bedingungen, unter denen Menschen leben und arbeiten. Wesentlich aber ist das Handeln. Wenngleich es etwas überrascht (sogar! die jungen und bürgerlichen, sogar! die Studenten), steht man beim Protest vor den Toren der Fabrik zusammen. Es ist eine politische Entscheidung, wer auf der Straße an wessen Seite ist.
»Außerhalb der Fabrik war der Arbeiter nicht etwa ein Bürger wie jeder andere auch, wenn er den Kittel auszog. […] In diesem System der Ausbeuterei bleiben sie auch außerhalb der Fabrik Arbeiter. Auch außerhalb lebten sie wie Arbeiter und wurden ausgebeutet wie Arbeiter.«
Klasse wird nicht nur in den zermürbenden Arbeitsbedingungen am Fließband deutlich: Sie zieht sich durch das ganze Leben. Gerade die Emigranten aus dem Süden leben im Norden Italiens abgeschottet unter widrigsten Bedingungen. Und hier sind überzeitlich und räumlich zahllose Kontinuitäten nachzuzeichnen. Denn solche Bedingungen zeigen sich auch in den Realitäten etwa der Spargelernte-Helfer:innen aus Osteuropa, die in Deutschland zu miesesten Bedingungen zu leben haben, oder von Geflüchteten, die in Hallen gezwängt werden. Und die in der BRD lebenden Zeitgenoss:innen von Balestrinis Protagonisten kennen solche Verhältnisse ebenfalls. Ihre literarische Bearbeitung findet auch in aktuellen Texten statt: Wenn in Gün Tanks Die Optimistinnen von der enttäuschenden Sozialpartnerschaft der Gewerkschaften die Rede ist oder von den entwürdigenden Wohnverhältnissen, dann ist das sehr nah an dem, was Balestrini nachzeichnet, wenngleich zwanzig Jahre später.
Nanni Balestrini
Die große Revolte. Romantrilogie
Übersetzt von Peter O. Chotjewitz, R. Heimbucher-Bengs, Ch. Fröhlich & A. Löhrer. Hamburg 2008: Assoziation A. 448 S., 24,00 € (vergriffen)
Und doch sind die Texte Tanks und Balestrinis gar weit voneinander entfernt: Denn bei Tank sind türkische Frauen die Protagonistinnen. Bei Balestrini zieht sich das Patriarchat auf andere Weise durch den Text: Frauenfiguren in tragender Funktion sind abwesend, und das ist nicht nur der Anlage des Textes geschuldet, sondern dem Umstand, dass eine Männergesellschaft derer entsteht, die auszogen, im Norden zu arbeiten. Und auch die Sprache ist nicht nur derbe, sondern auch patriarchal:
»Dann kam noch einer und so schlug man sich durch. Auf diese Weise erfuhr ich, dass Rocco auf einem Bagger arbeitete. Und ich konnte mir umʼs Verrecken nicht vorstellen, was für eine Votzenscheiße das sein sollte: ein Schaufelbagger. Ich stellte es mit sehr schön vor, auf einem Schaufelbagger zu sitzen. Auf dem Dorf gibtʼs nur Hacken und Ochsen.«
Balestrinis Sprache zeichnet sich aber nicht nur durch ihr Register aus; sie ist auch unmittelbar und sehr bildreich. Das machen Titel wie Text eindrücklich: »Auf den Barrikaden wehten die roten Fahnen und auf einem Spruchband stand geschrieben: Was wollen wir?! ALLES! Immer noch kamen von allen Seiten die Leute herbei. Die ganze Zeit hörte man ein dumpfes Donnern, das Tamtam der Steine, mit denen die Menschen rhythmisch gegen die Masten der elektrischen Leitungen schlugen. Damit verursachten sie dieses fortgesetzte, dumpfe Geräusch.« Damit ist Wir wollen alles ganz und gar nicht zaghaft, sondern weiß, was es will – alles eben –, und setzt dafür entsprechende Mittel ein: Paratexte, rote Fahnen und vehementen Sound.
Gün Tank
Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter
S. Fischer: Frankfurt a. M. 2022
208 S., 22,00 €
Gegen die Lesegewohntheit
Die hier in Fülle angeführten Zitate lassen bereits erahnen: Ganz gemäß den Gewohnheiten der Leser:innen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ist Wir wollen alles nicht. Zwar begleitet man den Weg des Protagonisten – der bildet aber zugleich die kollektive Identität einer Klasse ab und lässt die individuelle Aushandlung von Gefühl und Erleben außen vor. In diesem wie dem sprachlichen Bruch liegt das gesellschaftlich wie ästhetisch Interessante.