Eine durchgedrehte Traumreise

Von einem halbverlassenen Haus in den Bauch eines Walfisches – dazwischen liegen eine lange und häufig auch beschwerliche Reise, großer Hunger und ein Koffer mit einem toten Kind. Michelle Steinbecks Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch wütet phantasievoll.

Von Simon Gottwald

Bild: Brian Brodeur via pixabay / Creative Commons CC BY-NC 2.0

Träume haben bekanntermaßen ihre eigene Logik. Orte und Personen wechseln unvermittelt, Widersprüchliches kann problemlos nebeneinander stehen, und die größten Unwahrscheinlichkeiten dürfen ohne Widerrede existieren. Genau dieser Logik (oder besser: Unlogik) gehorcht Michelle Steinbecks Romanerstling Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch, der es sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 geschafft hat. Ob es ein haariges Miniaturkrokodil ist, das als Haustier gehalten wird, oder eine aus dem stürmischen Meer aufsteigende Kirche aus Glas – Einfallslosigkeit lässt sich dem Roman gewiss nicht vorwerfen.
Die Ich-Erzählerin Loribeth macht sich auf die Reise, um ihrem Vater, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat, einen Koffer wiederzugeben, dessen Inhalt seiner Verantwortung unterliegt.
Diese Reise Loribeths ist jedoch nur das Gerüst, das verschiedene Episoden, die zwischen Absurdismus und Surrealismus oszillieren, daran hindert, auseinanderzufallen. Der Inhalt des Koffers ist ein Kind, das die Erzählerin versehentlich getötet hat, das aber irgendwie nicht nur nicht tot, sondern sogar unfähig ist zu sterben. Auf den Weg gemacht hat die Protagonistin sich, weil eine in einem Ofen wohnende Wahrsagerin ihr erzählte, sie müsse sich von den Unzulänglichkeiten ihres Vaters lösen, den sie in »der roten Stadt« finden werde:

»Deine Ängste und Zögerlichkeiten, es sind nicht deine … Es sind die deines Vaters – steck sie in den Koffer, und gib sie ihm zurück!«

Und so macht Loribeth sich auf, um ihm das Kind zurückzugeben, in welchem sie eben diese Ängste ihres vor seiner Verantwortung geflohenen Vaters gebündelt sieht.
Unterwegs begegnen ihr mehrere Male drei große sprechende Doggen, denen es das tote-nicht tote Kind so sehr angetan hat, dass sie es zum Fressen gern haben. Und natürlich wäre es zu einfach, würde Loribeth ihren Vater in jener roten Stadt finden, die unwirtlich und seltsam verdreht ist und über die eine riesige Brücke führt, deren Enden niemand kennt.

Es folgen eine Fahrt auf einem Schiff aus leeren Konservendosen und ein Abstecher in eine vierköpfige Künstlerkolonie, deren Mitglieder mehr damit befasst sind, eine Revolution zu planen als Kunst zu schaffen. Aus den Wirren dieser (offenbar erfolgreichen) Revolution wird Loribeth von Fridolin Seifert gerettet, den sie auf dem Konservenschiff kennengelernt, nach dessen einige Seiten zuvor beschriebenem Schiffbruch aber für tot gehalten hat. Mit Fridolin und seiner einen Wikingerschnurrbart tragenden Schwester kauft sie ein Haus. Erst dann kann sie zu ihrem Vater rudern, der sich auf der »Insel der geflohenen Väter« versteckt.
Doch auch nachdem sie dem Vater das Kind aus dem Koffer überantwortet hat, ist die Geschichte noch nicht vorbei, noch nichts scheint überstanden. Loribeth und ihre Mitbewohner verwahrlosen, ein Selbstmordversuch endet im Drogenrausch, die Welt wird überflutet und Loribeths Vater, jetzt ein Walfisch, verschluckt sie.

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Michelle Steinbeck
Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch

Lenos Verlag: Basel 2016
153 Seiten, 19,90€

Das alles lässt deutliche Anklänge an das erklärte Vorbild Daniil Charms erkennen, allerdings mit einem markanten Unterschied. Bei Charms ist das Groteske banal und das Banale grotesk, die furchtbare Absurdität des Lebens wird zur furchtbaren Absurdität des Alltags und umgekehrt. Steinbecks Absurdität hingegen ist so verrückt in jeder Bedeutung des Wortes, dass Fragen nach Allegorie oder Metapher, nach irgendeinem Bezug zu einer außerhalb der Geschichte liegenden Welt sich gar nicht stellen.
Manchmal allerdings entsteht hierbei ein Eindruck des Überflusses. So abstrus wie möglich sollen die Einfälle sein, so lose ihre Verknüpfung, dass mitunter das Lesevergnügen leidet. Nun wäre es natürlich ungerecht zu verlangen, surrealistisch-absurde Literatur müsse unbedingt den Fokus auf das Erzählen einer kohärenten Geschichte legen und sich zugunsten dieser zügeln, müsse mit jedem Detail zu deren Vorankommen beitragen. Auch von einem Traum würde wohl niemand erwarten, an dieser oder jener Stelle bitte nicht ganz so unrealistisch zu sein, das sei unglaubwürdig.
Wenn allerdings Fridolin Seiferts Schwester einen Wikingerschnauz trägt, einfach weil das geht, wenn Loribeth im Inneren ihres zum Walfisch verwandelten Vaters mitreist, dann geht es nicht um Fragen der Glaubwürdigkeit, der Logik oder des Vorankommens, es geht um den Eindruck, dass hier besonders dick aufgetragen werden soll, um den eigenen Ideenreichtum (der unbestreitbar vorhanden ist) zu demonstrieren.
Gleichzeitig muss aber diese Konsequenz des Abstrusen bewundert werden, das Durchhaltevermögen, das die Traumreise Loribeths zu ihrem Walfischvater mit etlichen skurrilen Einfällen schmückt. Manchmal ist das sogar auf eine groteske Weise ziemlich witzig, beispielsweise dann, wenn sich Loribeth überlegt, wie sie sich an ihrem unerträglichen Bruder und seinen Freunden, die das eigens gekaufte Haus für sich eingenommen haben, rächen könnte:

»Ich liege steif da und denke mir Strafen aus. Ich werde ihnen Kartoffelstock kochen mit Würstchen und Schneckengift, und sie werden es hineinschlingen und sich am Boden winden und winseln. Und dann, wenn sie sich allmählich erholen und ihre ersten zittrigen Schritte draussen wagen, fahre ich sie mit einer Walze über den Haufen.«

Als dann aber wenig später ein von Loribeth geworfenes Bügeleisen ihren zukünftigen Reisegefährten, das Kind, das schon bald einen Koffer bewohnen wird, am Kopf trifft, ist es mit den Fantasien nicht mehr weit her:

»Das Kind liegt auf dem Bauch. Am Hinterkopf hat das Eisen ein ordentliches Loch reingehauen. Ich stosse das Kind mit dem Fuss an und sehe mich verwundert um. So, als wäre ich zufällig vorbeigekommen.«

Szenen wie diese sind so gelungen, dass sie direkt aus der Feder von Daniil Charms kommen könnten, gleichzeitig aber verliert der Roman, wie bereits angedeutet, sich nicht im Epigonentum. Trotz aller offensichtlichen Anlehnungen an Charms emanzipieren die Episoden in Steinbecks Buch sich von ihrem Vorbild und schaffen es, über weite Strecken den Eindruck von etwas Eigenem zu vermitteln.
Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch ist ein enorm eigenwilliges Buch, auf das man sich einlassen muss. Leider wird dieses Einlassen nicht durchgehend belohnt, aber es sind nur Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck etwas trüben.

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