Zufällig erfährt Annie, dass ihre Eltern vor ihrer Geburt bereits eine Tochter hatten, die im Kindesalter verstarb. Wer war dieses Mädchen? Mit dem Wissen vom Familiengeheimnis versucht Annie in Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen mehr über ihre Schwester und die Bedeutung für ihr eigenes Leben herauszufinden.
Von Anna Röttger
In Das andere Mädchen schreibt Annie Ernaux, der 2022 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, einen Brief an ihre Schwester. Das Ungewöhnliche daran ist, dass das ältere Geschwisterkind schon vor ihrer Geburt im Alter von sechs Jahren verstarb. Die beiden Mädchen sind sich daher nie begegnet und die Adressatin des Briefes wird die Mitteilung nie lesen können. Warum dann überhaupt einen Brief schreiben? Genauso wie die vorangegangenen Werke der Französin stellt auch dieses eine Autobiographie dar. Es schildert überwiegend Erlebnisse aus ihrer Kindheit, die in der Retroperspektive beschrieben und kommentiert werden. Die zentralen Themen sind Familie, Eltern-Kind-Beziehung, Identität, Krankheit und Tod.
Annies Kindheit
Ernaux stellt sich als lautes, widerspenstiges und kränkliches Kind vor, das von ihren Eltern geliebt und beschützt wird. Die Familie lebt in einer Wohnung in der Normandie, der Vater und die Mutter führen einen Kramladen im Erdgeschoss des Wohnhauses. Im Gespräch mit einer Kundin berichtet die Mutter einmal von ihrer ersten Tochter, die an Diphterie erkrankte und verstarb. Sie sagt, das Mädchen habe wie eine »kleine Heilige« ausgesehen und sie sei »viel lieber als die da« gewesen. Annie lauscht diesem Gespräch unbemerkt und erfährt erstmals von der Existenz der Schwester. Die Eltern reden weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt je mit Annie über die erste Tochter und Annie fragt nie danach.
Für die Figur Annie stellt das Erfahren von der Existenz der Schwester einen Wendepunkt dar, »nichts ist mehr wie zuvor«. Wiederkehrend beeinflusst dieses Wissen ihr folgendes Leben. So erhalten die wenigen Fotos der Schwester Ginette eine besondere Bedeutung für die Protagonistin und sie vergleicht und verwechselt sich mit dem Mädchen auf den Fotos:
Erst rückwirkend erkennt sie, wie sie Möbelstücke und Gegenstände, die für Ginette angeschafft worden waren, selbst nutzte. Daraufhin folgen Überlegungen, inwieweit ihre eigene Existenz vom Tod der Schwester abhing. Schließlich wird neben dem Grab der Schwester auch der Vater beerdigt, doch die Mutter ignoriert die Tatsache, dass Annie offensichtlich von der Existenz Ginettes weiß: »Wir hielten die Fiktion jenseits der Glaubwürdigkeit aufrecht.«
Warum einen Brief an die unerreichbare Schwester schreiben?
Die Beschreibung der Schwester durch die Mutter bleibt Annie zeitlebens im Gedächtnis: Das fromme, gläubige Mädchen, die Heilige. Mit diesen Zuschreibungen kann Annie sich selbst nicht identifizieren. Ist sie eine schlechtere Version ihrer Schwester? »Du warst ihr Unglück gewesen, ich wusste, dass ich ihre Hoffnung war, ihre Komplikation, ihre Ereignisse vor der Erstkommunion bis zum Abitur, ihr Erfolg. Ich war ihre Zukunft.« Annie geht ihren eigenen Weg, vergisst in bestimmten Lebensphasen die Existenz der Schwester, in anderen Abschnitten scheint das Thema dagegen einen zentralen Aspekt darzustellen. Sie ist beruflich erfolgreich, sodass die Eltern stolz auf sie sind. Die Konzentration der Kapazitäten auf das eine Kind gelingt. Doch Annie überlegt sich, wie die Zukunft Ginettes wohl ausgesehen hätte.
Annie Ernaux
Das andere Mädchen
Übers. von Sonja Finck
Suhrkamp: Berlin 2023
74 Seiten, 18,00€
Annie stellt sich im Werk selbst die Frage nach ihrer Schreibmotivation: »Wurdest du erst in meinem Schreiben wiedergeboren, dadurch, dass ich in eine Welt hinabgestiegen bin, die ich vorher nicht kannte, wie ich es in jedem Buch tue, auch hier, wo ich den Eindruck habe, ich würde in einem unendlich langen Flur endlos viele Schleier beiseiteschieben?«. Die Schwester wird den Brief nie lesen und die im Text gestellten Fragen nie beantworten können. Doch Annie findet durch das Schreibprojekt immer mehr über Das andere Mädchen heraus und verknüpft Erinnerungen, Ereignisse und Erzählungen miteinander.
Einfühlsam und authentisch geschrieben
Der Text beschreibt feinfühlig und präzise die Situationen und Gedanken Annies. Er eröffnet der lesenden Person dadurch einen intimen Blick in das Familiendrama. Die vielschichtige Verknüpfung zwischen den Familienmitgliedern, auch solchen, die sich nie kennenlernen, wird darin dargestellt. Gleichzeitig wird ein konkreter Einblick in eine Arbeiterfamilie des 20. Jahrhunderts in der Normandie gegeben.
Der Brief ist an die Schwester adressiert, kommt jedoch ohne Anrede oder Grußformel aus. Er schildert in einer einfachen, klaren Sprache die Geschehnisse der Vergangenheit sowie die Gedanken und Fragen Annies. An mehreren Stellen wird außerdem eine Metaebene eingenommen, in der Annie beispielsweise berichtet, dass ihr das Beschreiben der folgenden Szene schwerfalle, oder dass sie die das Schreiben der Handlung nicht weiter hinauszögern möchte. Diese Abschnitte erzeugen einen spannenden Schreibstil durch die weitere Perspektive auf die Handlung. Durch dieses Zusammenspiel des dramatischen Geschehens in der Vergangenheit und den Kommentaren zur Schreiberfahrung in der Gegenwart der Schriftstellerin wird Annie Ernaux‘ schmales Werk zu einem besonderen Leseerlebnis.
Philosophisch anmutende Sätze bleiben auch nach der Lektüre im Gedächtnis, zum Beispiel solche, die das komplexe Verhältnis zwischen den Schwestern beschreiben. Folgender, der sich auf das zufällig belauschte Gespräch über die Existenz der Schwester in der Kindheit bezieht, setzt die Zeit in Verhältnis zum Schreiben: