Mit zwölf Texten wirft Ann Cotten eine vertrackte Science-Fiction-Denkmaschine an und sucht in utopischen Räumen nach einem Leben jenseits vom Motto: »Perspektivlos vor lauter Perspektive«. Lyophilia stellt die richtigen Fragen, ist aber so alien geschrieben, dass es nervt.
Von Felix Keutel
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Es gehört nicht unbedingt zum guten Ton, sich bei einem Buch über den Klappentext zu mokieren. Schließlich kann die Autorin ja nichts dafür. Aber wenn es da heißt, ein Buch sei »eine Sammlung von Erzählungen wie ein Schuss ins Knie«, dann stellt sich unwillkürlich die Frage, seit wann das etwas Positives ist. Andererseits muss man sagen: Es trifft den Nagel auf den Kopf. Denn das Buch ist tatsächlich besonders eindrucksvoll, wenn man das Abenteuer des Lesens vor allem als schmerzhaftes Hinken wertschätzt.
Lyophilia heißt das neue Buch von Ann Cotten. Der Titel spielt unter anderem auf das Verfahren der ›Lyophilisation‹ (also der Gefriertrocknung) und damit auf die Idee der ›Kryonik‹ an, der Einfrierung von Lebewesen zur Wiederbelebung in der Zukunft. Und das ist auch schon das Stichwort: Zukunft. In den zwölf stark reflexiven Texten begegnen dem Leser immer wieder Sci-Fi-Elemente, etwa die Kolonialisierung eines Asteroiden, Zeitreisen, Paralleluniversen und (Anti-)Utopien. Dabei herrscht ein Grundgefühl vor, das mit der Diagnose beschrieben werden könnte, die der kommunistische Schriftsteller Ronald M. Schernikau der BRD in den 80er Jahren – und eigentlich dem ›spätkapitalistischen‹ Westen insgesamt – schon bescheinigte: »allergrößte bewußtheit bei null aktivität.«
Herzklopfen
Zwischen den in der Mehrzahl recht kurzen, oft parabelhaften oder fragmentarisch wirkenden Texten gibt es auch zwei Geschichten mit Romanlänge, die den Kern des Bandes bilden. Diese beiden Sci-Fi-Utopien zeigen mitnichten eine schöne, geschweige denn ultraromantische Welt, in der über die Wunder futuristischer Technik und ihre fantastischen Möglichkeiten gestaunt wird. Die Figuren darin sind vielmehr geprägt vom Verharren in einem rastlosen Stillstand: »Perspektivlos vor lauter Perspektive«, heißt es da fast programmatisch.
Die längste Geschichte trägt den Titel Proteus oder Die Häuser denen, die drin wohnen. Sie handelt von dem erotischen Verhältnis zwischen einem in den Tag lebenden, herumphilosophierenden Musiker namens Zladko und der Musikerin, kommunistischen Politikerin und Mutter Ganja, woraus sich viele wiederum erotische Verstrickungen ergeben, unter anderem zwischen Zladko und ihrem Sohn Igor, genannt ›Space Cowboy‹, sowie ihrem Roboterehemann Depp, auch zwischen Ganja und Xin, einem Koreaner, der in Slowenien Ginko anbauen will, und so weiter und so weiter.
Die Erzählung ist geprägt von diesem Hin und Her, von Liebe und Sehnsucht. Ab dem letzten Drittel der immerhin rund 200 Seiten umfassenden Geschichte geht die Welt an hervorbrechenden Umweltkatastrophen unter. Nur unser Paar kann sich, auserwählt von merkwürdigen Wesen (Aliens?), in eine Art Parallelwelt in einer Tropfsteinhöhle flüchten, wo – und da kommt das utopische Element ins Spiel – alles, was sie sich vorstellen, Wirklichkeit wird und Zladko sich schließlich in einen Grottenolm verwandelt und verschwindet.
In der Geschichte zeigt Ann Cotten ihr – zum Beispiel schon aus Hauptwerk. Softsoftporn bekanntes – Gespür für Liebe und Erotik, das hier in einigen treffenden Beobachtungen aufblitzt. Was heißt es etwa, in einer Beziehung die Person zu sein, die im Bett bleibt und nur den Rücken der anderen Person betrachtet, während diese sich für den Alltag fertig macht? Auch das Changieren zwischen Verzweiflung und Erfüllung weiß sie zu fassen, wenn es etwa aus Zladkos Sicht heißt:
Und wenn es dann Antwort gibt: »Da kommt eine Nachricht von ihm. In meine Hand hinein, wie eine Meise nach Haselnüssen.« Abseits von diesen seltenen Momenten des Herzklopfens bereitet einem das Buch allerdings vor allem Kopfschmerzen.
Nicht handeln, denken
Die Figuren und Erzählstimmen in diesem Buch – das betrifft auch die kleinen Texte – sind nämlich besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie sehr viel nachdenken. Das dann bitte auch so abstrakt wie möglich und in der immer gleichen schrecklichen Philosophensprache, bei der man sich fragt, warum gerade die Form der Erzählung und nicht der Abhandlung gewählt worden ist – denn Erzählen ist anders. An einigen Stellen wirkt dieser verbohrte Reflexionszwang in seiner Weltfremdheit fast schon komisch, wenn er einer Szene anscheinend unbedingt aufgezwungen werden musste, nur um sie künstlich mit Bedeutung anzureichern.
Ann Cotton
Lyophilia
Suhrkamp: Berlin 2019
463 Seiten, 24,00 €
Da hat zum Beispiel Zladko gerade eine Beziehungskrise. Er sitzt mit Lore, einer anderen Geliebten, im Restaurant, die ihm allerlei Vorwürfe macht und die Beziehung beenden will. Eine recht klare Angelegenheit also, kein Frankfurter-Schule-Lesekreis. Was für ein Satz könnte da also von Seiten eines Liebhabers kommen, der hier Klarheit schafft, ein Satz der dagegen hält? Anscheinend folgender: »Lore, warum glaubst du das alles, die Wertberechnung von Personen über die Wertschätzung des bewussten Worts?« Kurz darauf knallt sie ihm eine, was nachvollziehbar ist. Damit wären wir auch bei dem größten Stolperstein von Lyophilia: der Sprache.
Sätze zum Stolpern
Kafka schrieb mal in einem Aphorismus über ›den wahren Weg‹, dieser ginge »über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.« Wer den Weg dieses Buches hier gehen will, sollte sich darauf gefasst machen, dass ihm aus der Sprache kein Tanzseil, sondern ein solcher Stolperstrick geknüpft wurde.
Es ist ein Buch, in dem ganz selbstverständlich neben dem Ginkotee über Semiotik gesprochen wird und Begriffe wie ›postmodern‹ oder ›poststrukturalistisch‹ fallen. Das ist – natürlich – erlaubt. Aber dann gibt es passend dazu eben auch Sätze, die dermaßen mit Bildungsversatzstücken vollgestopft sind, dass man sich fragt, ob Alan Sokal vielleicht seine Finger mit im Spiel hatte.
Ganja fährt da mit dem Auto zu einem Ginkofarm-Projekt in Slowenien, weil sie das gerade interessiert. Über diese Fahrt heißt es dann:
Daneben wimmelt es von haarsträubenden Bildern. Nach einem Techtelmechtel in einer Tropfsteinhöhle unterhält sich Ganja mit Zladko in einem Café in der Nähe. Aus seiner Sicht wird Folgendes berichtet:
Wer diesen Satz erstmal verkraftet hat, stolpert sofort über den nächsten, der so tut, als wäre er mehr, als er ist: »Ich schwelle an vor Freude über ihr Sein, das mich angeht.« Und kurz darauf: »Ein Sinn strahlt aus ihrem Mundwinkel«.
Ein Schuss in den Ofen
Der krasse »Schuss ins Knie« ist also vor allem einer in den Ofen. Was an Lyophilia gut ist: die relevanten Themen, hier und da ein interessanter essayistischer Gedanke, ein feines Gespür für Erotik, auch mal ein guter Vergleich. Positiv formuliert könnte das Buch als Herausforderung bezeichnet werden. Mit einem erzählerischen Tiefgang, der so heftig ist, dass er einen schon physisch verletzt, hat das freilich weniger zu tun, als mit einer Ausführung, deren Fadheit und Holprigkeit dem Leser dermaßen viel Geduld abverlangt, dass er sich permanent die Frage stellen muss, ob der Aufwand, sich da durchzukämpfen, überhaupt lohnt.
Denn das Buch glänzt in seinen längeren Geschichten vor allem mit austauschbaren Figuren und langweiligen Handlungen, insgesamt aber auch mit einer herumphilosofaselnden, nichterzählenden Sprache, die mehr Hindernis ist als Vermittler. Ann Cotten – eine begnadete Lyrikerin – hat mit ihrem Sci-Fi-Band Lyophilia eine hohe verchromte Hürde zusammengezimmert, über die ein Leser erstmal springen können muss. Eine Alternative ist da natürlich auch denkbar: Er kann einfach dran vorbeigehen.