Ein nachwirkender Abschluss

Entrüstete Beschwerden und deutliche Anschuldigungen: manch ein*e Schauspieler*in bringt das Publikum zum Nachdenken über die Umstände, unter denen Geflüchtete an den Grenzen Europas leiden. Das DT inszeniert zum Ende der Spielzeit erneut Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, diesmal unter Corona-Bedingungen.

Von Lucie Mohme

Titelbild: © Lucie Mohme, Zwischenbild: © Georges Pauly, mit freundlicher Genehmigung DT Göttingen.

Vorwürfe, Anschuldigungen, Anklagen. Das Ensemble des Deutschen Theaters Göttingen brachte einen satirischen Abend mit ernster Wirkung auf die Bühne. Eine Ansprache an das Publikum oder eigentlich ganz Europa und alle Menschen, die die Geflüchteten an den Grenzen Europas gerade nicht interessieren. Das 2015 von Erich Sidler vollständig inszenierte Stück <em>Die Schutzbefohlenen</em> wurde dieses Jahr überwiegend vorgelesen – dennoch teilweise so glaubwürdig, dass das Publikum sichtlich mitgenommen war, was durch direkte Reaktionen auf schreiende Vorwürfe klar wurde. Genau wie es die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihren literarischen Werken oft deutlich macht, wurde auch an diesem Abend mit Sarkasmus und teils vulgärem Ton gegen unter anderem Fremdenfeindlichkeit und Menschenrechtsverletzung aufmerksam gemacht. Im Mittelpunkt des Abends standen die, von den Schauspieler*innen verkörperten, Geflüchteten, die ihre Geschichte erzählten und Erfahrungen teilten.

Das gesamte Ensemble auf der Bühne

Vier Gruppen betreten nacheinander die Bühne. Eine schöne Gelegenheit für alle aus dem Ensemble, am Ende der Spielzeit noch einmal das Wort zu ergreifen und die weitgefächerte Bandbreite ihrer verschiedenen Charaktere erkennen zu lassen. In dieser außerordentlichen Inszenierung verdeutlichte sich, was die Schauspielenden sowie alle Mitarbeitenden am Theater geleistet haben. Unter besonderen Umständen suchten und fanden sie eine Lösung , denn kein Theater gibt es nicht. Unter keinen Umständen lässt sich das DT unterkriegen.

Jelinek über Geflüchtete

Das 2013 veröffentlichte Werk von Jelinek richtet sich an die Gesellschaft Europas, an die hohen Ämter der Länder, die die Geflüchteten nicht anerkennen, abweisen, und Ungerechtigkeit walten lassen. Ein Appell auch heute zu Coronazeiten, an die Flüchtenden zu denken, die nun noch deutlicher spüren, dass ihnen nicht geholfen wird. Die erste Gruppe erzählt die Geschichte der Geflüchteten aus der eigenen Perspektive. Beschwerden werden laut und es geht um Rassismus, Freiheit und Menschenrechte.

Die ersten sechs Schauspielenden bringen eine besondere Dynamik mit auf die Bühne. Nachdem sie sich im Gleichschritt auf die Bühne begaben und sich hinter den mit Abstand aufgestellten Mikrofonständern eingefunden haben, folgt erstmal Stille. Der Blick, geradeaus ins Publikum gerichtet, erzeugt bei den wenigen Zuschauenden, die sich unter Coronabedingungen im Saal befinden, eine gewisse Intimität. Teils abgelesen, aber zeitweilig auch ausnahmslos frei wird Jelineks Text vorgetragen. Einen ersten Eindruck hinterlässt Rebecca Klingenberg, die mit der ausdrücklichen Botschaft die Zuschauer fesselt:

Die Menschenwürde wichtig am Beginn und Ende des Lebens, die ist keine Eigenschaft, nein, keine Eigenschaft, sie ergibt sich durch unsere Existenz als Menschen, und wenn wir keine Menschen sind, haben wir auch keine Würde.

Auch Roman Majewski macht mit wütendem Gebrüll auf sich aufmerksam. Andere aus der Gruppe tragen zeitweilig schnell und gehetzt vor, was die Dringlichkeit des Themas unterstreicht, jedoch auch das Publikum weniger den Inhalten folgen lässt.

Berlepschs Glanzleistung

Besonders hervorstechend ist in der ersten Gruppe Gabriel von Berlepsch, der  überhaupt am ganzen Abend am meisten glänzt. Frei vorgetragen setzt er  sich als erstes mit ausschweifender Gestik, in Form von entrüstetem Armhochwerfen, passend zu seinem Text ab. »Rassismus hat keinen Platz«, schreit er ungläubig ins Publikum und erzeugt überraschtes und empörtes Aufrufen beim Publikum. Eine Kritik an Smartphones, die das Unheil einfach nur festhalten, aber doch zu sonst nichts beitragen, unterstreicht er mit direkter Ansprache an die Zuschauenden: »Mach doch ein Foto, los!«. Mehr und mehr nimmt seine Beweglichkeit zu und er löst sich vom Mikrofonständer, reißt diesen um und geht nach vorne an den Bühnenrand. Immer mehr steigert er sich in sein Problem hinein: »Freiheit!«, schreit er, schafft es aber auch Komik in diese ernste Angelegenheit zu bringen. Beinahe bringt er das Fass zum Überlaufen. Berlepschs Worte treffen genau dahin, wo sich jede*r im Publikum selbst fragt: Will ich ein Teil dieser Ungerechtigkeit sein? Ist meine Ignoranz des Elends eine Empathielosigkeit, die ich ändern kann? Berlepsch könnte hier die*den eine*n oder anderen zum Nachdenken gebracht haben.

Anders als bei der hier zu sehenden Aufführung von 2015 präsentierte das Ensemble das Stück vorwiegend lesend. Gabriel von Berlepsch (rechts außen) kam aber auch diesmal in Fahrt. Rebecca Klingenberg, Elisabeth Hoppe, Gaby Dey, Moritz Schulze, Bardo Böhlefeld, Anton von Lucke, Felicitas Madl, Andreas Jeßing, v.l.n.r. © Georges Pauly, mit freundlicher Genehmigung DT Göttingen.

Musik signalisiert einen Übergang zur nächsten Gruppe , wobei jedes Mal die sechs Mikrofone desinfiziert werden. Diesmal  verkörpern die Schauspieler*innen Geflüchtete, die schon im Asylland angekommen sind. Hier geht es um die verwehrte Einbürgerung, und Proteste werden laut, dass prominente Asylsuchende sofort und ohne Hinterfragen eingebürgert würden. Besonders in dieser Gruppe macht  ein gemeinsamer Sprechchor Eindruck und sorgt für Abwechslung.

Verwirrung unter den Schauspielenden

In der dritten Gruppe gibt es gleich am Anfang und auch zwischendurch immer wieder Pausen, wo die Köpfe hin und her schnellen oder alle Schauspielenden einen von den Kolleginnen erwartungsvoll anschauen. Ob das jetzt ein geschicktes Stilmittel ist oder eine Unstimmigkeit untereinander, bleibt den Zuschauer*innen selbst überlassen. Zumindest ist die Wirkung etwas irritierend, aber auch belustigend, da die Schauspielenden in der Gruppe eine besondere Dynamik erzeugen. Das Thema in dieser Ensemblegruppe ist Wasser und somit eine direkte Metapher für den Tod unzähliger Geflüchteter bei der Überfahrt über das Mittelmeer.

Daniel Mühe zeigt mit Armehochreißen oder einem satirischen Klatschen von ihm und seinen Schauspielkolleg*innen initiiert, wie wütend ihn die ganze Sachlage macht und uns machen soll. Oder er unterstreicht durch eine kreisende Bewegung der Arme seine Formulierung »[…] uns trifft man, aber auf uns trifft nichts zu […]«. Auch Gaia Vogel macht den Vorwurf deutlich, dass es keinen kümmert: den Flüchtlingen gebe man »Dreck« und »wir haben ihn genommen«. Ronny Thalmeyer sorgt mit seinem ruhigen Wesen für einen Kontrast. Bei dieser Thematik wirkt das erst fehl am Platz, bietet jedoch letztendlich eine willkommene Abwechslung zu dem tendenziell aufgewühlten Verhalten der anderen. Zum Abgang der ganzen Gruppe setzt wieder Musik ein, während Bastian Dulisch selbst noch redet. Dies hatt den Effekt, dass er seinen Text zuende brüllend von der Bühne gehen muss. Ein passendes Stilmittel, um die nicht gehörten Schreie der Geflüchteten zu symbolisieren.

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen.

Traurige Wahrheiten

Die letzte Gruppe bringt noch einmal komödiantische Elemente in die Inszenierung, aber auch eine starke Moral zum Schluss. Der umgetextete Ikea-Slogan »Wohnen Sie schon, oder leben Sie noch nicht« oder die umgedichtete Phrase »Jeder Mensch ist illegal«, wie Volker Muthmann sagt, bringt Jelineks Satire auf den Punkt. Zugleich Jelineks Botschaft »Wer zuletzt lacht, muss wirklich was zu lachen haben«, bringt die traurige Wahrheit über die Geflüchteten zum Vorschein. Judith Strößenreuthers Aufruf zu  »gegenseitigem Respekt« sorgt für Stille im ganzen Saal. Volker Muthmann beendet die Inszenierung schließlich mit den Worten »Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da«, und lässt das Publikum mit Einigem zum Nachdenken zurück.

Eine ungewöhnliche Spielzeit wird mit dieser Inszenierung eindrucksvoll abgeschlossen. Der Intendant Erich Sidler findet nach dem langanhaltenden Applaus des Publikums die passenden Worte. Die Herausforderung, die diese Zeit mit sich bringt: »das drückt das Wesen des Theaters aus«, so Sidler. Denn Theater bedeutet immer Anpassung an die Veränderung und somit leitet Sidler zu dem Teil des Abends über, dem er dann doch mit einem weinenden Auge begegnet.

Abschied gehört dazu

Im Theater gibt es immer ein Kommen und Gehen. Sidler und das ganze Ensemble, das sich nun auf der gänzlich geöffneten Bühne befindet, müssen sich an diesem Tag von einigen Kolleg*innen verabschieden. Das Ensemble verlassen Florian Donath, Gregor Schleuning und Marius Ahrendt und aus dem Theaterteam hinter den Kulissen Ursula Friedrischek (Inspizientin) und Gertrud Schmidt (Soufflage). Schließlich wird der Abend also erneut etwas traurig, da die verabschiedeten Schauspieler*innen beim finalen Applaus die Tränen doch nicht unterdrücken können.

Letztendlich war der gesamte Abend ein Erfolg und ein würdiger Abschluss der Spielzeit. So kurzfristig und spontan auf die Corona-Umstände zu reagieren ist kein Leichtes. Ein politischer Appell in Form von Jelineks Stück war an dieser Stelle genau richtig. Das Ensemble am Ende noch einmal zusammen auf der Bühne zu sehen, gab ein schönes Bild ab und lässt nicht vergessen, was das DT an bemerkenswerten Schauspieler*innen zu bieten hat. Ein Versprechen von Sidler, dass es für die nächste Spielzeit einen Corona-Spielplan gibt, ließ alle Theaterbegeisterten gespannt in die Sommerpause gehen.

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