Robert Seethaler, der seine Leser:innen in seinen Romanen trotz wenig voluminöser Worte in fremde Welten entführt, hinterlässt mit seinem neuen Roman Der letzte Satz eher ein Rätsel. Erst Recherche zum Leben Gustav Mahlers wirkt erhellend.
Von Jenni M. Kühnel
Robert Seethalers Der letzte Satz, in dem er den Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler auf sein Leben zurückblicken lässt, ist ein Scheinroman. Einen Scheinroman kann man sich wie folgt vorstellen: Herr Tur Tur aus der berühmten Kindergeschichte Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ist ein Scheinriese, da er aus der Ferne riesig erscheint, doch je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er, bis man dann, wenn man sich in einem Sicherheitsabstand von 1,50 Meter zu ihm befindet, vor einem durchschnittlich gewachsenen, alten Mann steht. Nun, Der letzte Satz erscheint ganz ähnlich.
Im Regal ausgepriesen als Spiegel-Bestseller, in den Rezensionen teils hoch gelobt, auf der Buchklappe vorn gut erkennbar das Wort »Roman«. Das muss ein Riese sein. Nach dem Griff ins Regal stellt man jedoch fest: Der Roman hat nur 126 Seiten in Schriftgröße 14, physisch ist er also gar nicht so riesig. Dann muss eben der Inhalt aushelfen. Doch auch ein Blick in die Geschichte enttäuscht, denn der erste Eindruck ist in etwa dieser: Gustav Mahler, ein berühmter Komponist und Dirigent befindet sich auf seiner letzten Reise von New York nach Wien. Er ist ein grimmiger, unsympathischer alter Mann, der ein sehr erfolgreiches Arbeitsleben und ein mit Unglück und Schmerz durchwobenes Privatleben führt. Er liebt seine Frau, steht sich jedoch selbst im Weg und zeigt ihr diese Liebe kaum. Er liebt seine Töchter, hat aber Schwierigkeiten, diese Liebe zu zeigen. Unstimmigkeiten und Ängste halten ihn davon ab.
Eine Biographie in Form eines Romans?
Robert Seethaler
Der letzte Satz
Hanser Berlin: 2020
128 Seiten, 19,00 €
Von diesen Problemen erfährt man aus seinem eigenen und dem Blickwinkel eines ihn auf der Überfahrt begleitenden Schiffsjungen. Gleich zwei Perspektiven also, die dennoch ein recht nüchternes Bild seines Lebens bieten. Die wichtigste nämlich fehlt, jene der historischen Realität. Als unwissende:r Leser:in, der:die nicht weiß, wer Gustav Mahler eigentlich ist, muss man zum Verständnis vieler Passagen im Buch herausfinden, was von dem Erzählten überhaupt wahr ist und was nicht. Und das Verstehen ist wichtig, um den Roman zu erleben und nachzuvollziehen, weshalb Robert Seethaler überhaupt einen so kurzen, kaum aussagekräftigen Roman über Gustav Mahler veröffentlicht hat.
Denn Seethaler entscheidet sich nicht eindeutig genug für ein Genre: Erzählt er eine Biographie in Form einer knapp zu langen Novelle? Basiert alles, was man über Mahler liest, auf der Realität, oder sind die von Seethaler geschilderten Ereignisse fiktiv? Und, wenn zweiteres der Fall sein sollte, was ist seine Intention? Die inhaltliche Nähe zur Biographie im Zusammenspiel mit der fiktionalen Form des Romans verwirrt. Die Lebensereignisse entsprechen nachlesbar der Realität und werden von Seethaler chronologisch abgehandelt. Dazu kreiert er, wie in einem Roman üblich, selbst ausgedachte Gedanken und Gefühle – dabei geht er jedoch nicht wirklich in die Tiefe. Das Buch ist zu kurz, um sich auf seine Fiktion einzulassen. Ein Roman könnte in dieser Hinsicht fantasievoller und experimenteller vorgehen, Seethaler bleibt jedoch bei einem eher nüchternen, quasi-biographischen Referat von Mahlers Lebensereignissen und verschenkt viel erzählerisches Potenzial.
Enttäuschung trifft auf Faszination
Doch lässt man sich erst einmal auf die Scheinriesenhaftigkeit des Romans ein, entdeckt man versteckte Details. Denn der Roman inspiriert zu einer Recherche seines Hintergrunds. Zum Beispiel geht Seethaler ganz bewusst nie direkt auf Mahlers Musik ein. Viel raffinierter: Er stellt sie ganz anders in den Mittelpunkt des Romans. Aus einem Scheinroman wird ein Roman. Der Titel »Der letzte Satz« verrät es schon fast. Das gesamte Geschriebene spiegelt den letzten Satz von Mahlers neuntem Werk wieder, indem es sich der Melodie des Stückes anschmiegt. Das Stück »Das Lied von der Erde« entstand in jener Zeit, in der auch das Buch spielt. Mahlers Tochter starb, er trat als Direktor der Wiener Hofoper zurück aus antisemitischen Veranlassungen, eine Herzkrankheit, an der er letztendlich auch sterben würde, wurde diagnostiziert. Eine Zeit voller Schicksalsschläge.
Der letzte Satz des »Liedes von der Erde« trägt den Namen: »Der Abschied«. Und das ist auch das zentrale Thema des Buches. Mahlers Abschied von seiner Tochter, Abschied von der Wiener Hofoper, der Abschied von seiner Frau, ein letzter Abschied von seinem Leben. Auch in den vielen Passagen des Buches, in denen Mahler voller Euphorie ist und gemeinsam mit seiner Tochter im See badet und schreien könnte vor Glück, dann an Land kommt und von seiner Frau mit Ärgernis und Unzufriedenheit empfangen wird, hört man die Musik nun deutlich heraus. Die Gefühle Mahlers, hin und her gerissen zwischen Zufriedenheit und Missmut, die sich in der Musik widerspiegeln, strukturieren auch den Roman. Sprachmelodisch und stilistisch ist das meisterhaft gemacht.
Ein Meisterwerk auf der Zielgeraden
Die Verbindung zwischen Mahlers letzter Reise, seinen letzten Sätzen in seinem Leben und seinem letzten komponierten Satz werden deutlicher, wenn man den Satz dann noch einmal begleitend zur Lektüre anhört: Ein Mix aus tiefen, schweren Klängen im Zusammenspiel mit leichten Klängen. Man erkennt sofort Bestandteile des Romans in der Musik wieder und plötzlich erklären sich auch die eigenen Gefühle beim Lesen des Buches. Im Roman werden Leichtigkeit, Glück und Zufriedenheit stets von Streit, Unzufriedenheit, Maßregelung und Ärgernis heimgesucht, im Lesenden werden Lust am Lesen und Gänsehaut von Unlust und Unverständnis heimgesucht, und im »Lied von der Erde« geschieht dies auf ganz ähnliche Art und Weise. Auf Dur folgt Moll.
In vielen Kritiken kann man lesen, Seethaler würde nicht weit genug auf Mahlers Musik eingehen, seine Werke kämen zu wenig vor. Doch Seethaler widmet sich in diesem Buch Mahlers Musik in ganz besonderer Weise. Denn er handelt entgegen seiner eigenen im Roman angeführten Worte: »Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür.« Seethaler jedoch erzählt mit und in seinem Roman die Musik.
Auch die Szene am Ende des Romans, in der der Schiffsjunge seinen finalen Auftritt hat, wird gut von ihm zusammengefasst: Er war zwei Wochen ein täglicher Begleiter Mahlers, doch gekannt hat er diesen Mann nicht. Auch wir, die Leser:innen, sind für eine Weile Mahlers Begleiter:innen, doch kennengerlernt haben wir ihn noch lange nicht. Erst ein klein wenig besser, als wir uns mit ihm, seiner Lebensrealität und dem komplexen Hintergrund zum Roman auseinandergesetzt haben.