Ein Leben für den Kiosk

In Sayaka Muratas Roman Die Ladenhüterin, der 2018 ins Deutsche übersetzt wurde, steht die Protagonistin Keiko Furukura für den Archetyp der guten Außenseiterin, die durch ihr einfaches Leben niemandem schadet, aber dennoch im Kreuzfeuer der Kritik steht.

Von Christoph Helweg

Bild: stevepb / Pixabay

Die 36-jährige Ich-Erzählerin Keiko Furukura arbeitet in einem Konbini, einer Art japanischem Kiosk – und das bereits seit 19 Jahren. Was im Jahr 1998 als harmloser Nebenjob begann, entpuppte sich für die damalige Studentin Keiko als Berufung und Anfang vom Ende ihrer beruflichen Entwicklung. Keiko, die gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Asami in einer liebevollen Familie aufwuchs, wird als »sonderbares, etwas verhaltensauffälliges Kind« beschrieben, denn ihr mangelt es an Empathie und gesundem Menschenverstand.

Meine Eltern waren am Ende ihrer Weisheit, liebten mich aber dennoch nicht weniger. […] Ich tat nur noch, was die anderen taten, folgte allen Anweisungen und stellte so gut wie jede eigene Lebensäußerung ein. Die Erwachsenen schienen dann erleichtert, als sie merkten, dass ich nur noch das Nötigste sprach und nicht mehr eigenmächtig handelte.

Ihre weitere Ausbildung in Schule und Universität setzte Keiko in Verschwiegenheit fort. In ihrem ersten Studienjahr entdeckte sie eines Abends einen Aushang für eine Stelle in einem neuen Konbini. Sie bewarb sich und wurde für die Arbeit geschult. In Uniform und mit eingeimpften Floskeln wurde sie zum ersten Mal zu einem unauffälligen Mitglied der Gesellschaft. Diese Erfahrung prägt ihr weiteres Dasein: »Zum ersten Mal war es mir gelungen, am normalen Leben teilzunehmen. Als wäre ich gerade erst geboren worden. Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als normales Mitglied der Gesellschaft.«

Der Konbini als Dreh- und Angelpunkt

Es folgt ein großer Zeitsprung in die Gegenwart. Seit ihrem »Geburtstag« im Konbini sind 19 Jahre vergangen, und die heutige Keiko ist wie besessen von ihrer Arbeitsstelle. Ihre Obsession geht so weit, dass sie sich fast ausschließlich von Lebensmitteln aus dem Konbini ernährt, wodurch sie sich so fühlt, als sei sie »ebenso ein Teil von ihm […] wie die Regale mit den Haushaltswaren oder der Kaffeeautomat«. Als Erklärung für ihre fast zwei Jahrzehnte andauernde Tätigkeit als Ladenhilfe schiebt sie auf Anraten ihrer Schwester eine angebliche chronische Erkrankung vor, obwohl sie kerngesund ist. Eine Loslösung vom Konbini scheint ihr nicht in den Sinn zu kommen, denn hier schrumpft ihre Welt auf ein für sie erträgliches Maß.

Während Keiko Fukurura mit ihrem bescheidenen Lebensstil durchaus nicht hadert, machen ihre Mitmenschen ihr das Leben schwer – sei es der Filialleiter, der davon spricht, dass die Menschen sich zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln müssten, ihre Mutter, die sich nach Neuigkeiten in ihrem Leben erkundigt und enttäuscht ist, wenn es nichts Neues gibt, oder aber eine ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen, die etwas an Keikos Dasein als Junggesellin ändern will. Es lastet schwer auf Keiko, dass alle Menschen in ihrer Umgebung ihren Lebensstil ändern wollen und ihre leidenschaftliche Hingabe für den Konbini nicht akzeptieren. Für sie ist es jedoch schon lange zur Bestimmung geworden, ausschließlich für den Konbini zu leben. Einen anderen Sinn im Leben sieht sie nicht.

Eines Tages tritt der »schlaksige« Shiraha in Keikos Leben. Er ist faul, arrogant und besessen von der Ungerechtigkeit der Gesellschaft. Allein sie macht er für seine Misere verantwortlich, anstatt die Schuld für sein Scheitern in seinem eigenen Handeln zu suchen. Durch eine Verkettung von Umständen, an denen Shiraha nicht unschuldig ist, verliert er Arbeit und Wohnung. Schließlich quartiert er sich bei Keiko ein, der das nicht ungelegen kommt; denn solange Shiraha bei ihr lebt, erklimmt sie eine weitere Stufe auf der Leiter der gesellschaftlich anerkannten Normalität. Zwar ist er eine schlechte Partie, doch Keikos Bekanntgabe, in einer festen Beziehung zu sein, lässt in ihren Mitmenschen die Hoffnung aufkeimen, dass sie eines Tages heiraten wird. Er lässt es auch nicht unversucht, Keiko seine Sichtweise auf die Gesellschaft näherzubringen:

Unsere Gesellschaft unterscheidet sich überhaupt nicht von der in der Jōmon-Zeit. Menschen, die sich den Gesetzen des Stammes nicht anpassen, werden ausgestoßen: Männer, die nicht jagen, und Frauen, die keine Kinder bekommen. Obwohl man heute von Individualismus spricht, werden Menschen, die zu keinem Stamm gehören wollen, belästigt, ungerecht behandelt und zu guter Letzt ausgestoßen.

Ein kritischer Blick auf die Gesellschaft

Die Ladenhüterin ist ein gesellschaftskritisches Werk, auch wenn es über weite Strecken humoristisch anmutet. Für die 36-jährige Keiko geht es immer wieder um die Frage, wie sich ein normaler Mensch in der Gesellschaft zu verhalten hat. Während sie in ihrem Erscheinungsbild und Handeln ihre Mitmenschen imitiert, erregt ihre Lebenssituation Anstoß, denn sie ist weder verheiratet, noch übt sie einen anständigen Beruf aus. Zwar kommt sie mit ihrem bescheidenen Lebensstil gut über die Runden und liegt dem japanischen Staat nicht auf der Tasche, aber akzeptabel scheint ihre Situation den Mitmenschen nicht.

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Sayaka Murata
Die Ladenhüterin

Aufbau Verlag: Berlin 2018
145 Seiten, 18,00€

Als Kontrastfigur zu Keiko lässt Murata den arbeitsscheuen Shiraha auf der literarischen Bühne erscheinen. Während beiden gemein ist, dass sie Außenseiter in der Gesellschaft sind, unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht. Trotz ihrer gesellschaftlich wenig angesehenen Anstellung im Konbini ist Keiko finanziell unabhängig, lebt in einer eigenen Wohnung und akzeptiert die Regeln der Gesellschaft; Shiraha hingegen ist obdachlos, verschwendet keinen Gedanken an die Arbeit und verachtet die Gesellschaft. Es mutet zuweilen ironisch an, dass Shiraha die Gesellschaft und ihre Regeln verteufelt, während er jene Regeln bei jeder Gelegenheit übertritt und die Konsequenzen dafür zu spüren bekommt.

Die Welt nur mit Keikos Augen zu sehen, unterstreicht ihren verständnislosen Blick auf die Gesellschaft und verdeutlicht die Probleme, die sie mit ihren Regeln und Gepflogenheiten hat. Obwohl es ihr durch Imitation ihrer Mitmenschen gelingt, wie eine normale Frau ihres Alters aufzutreten, geben ihre Gedanken und Gefühle Aufschluss darüber, dass es ihr immer noch an aufrichtiger Empathie mangelt. In einer Episode sitzt sie mit ihrer Schwester Asami und deren Baby bei Kuchen am Tisch. Das Kind weint, und Keiko beobachtet ihre Schwester, wie sie das Baby zu trösten versucht, und impliziert in Gedanken, dass es leichter wäre, das Kind einfach zu töten:

Das Baby fing an zu weinen. Um es zu beruhigen, wiegte meine Schwester es eifrig. Mein Blick fiel auf das kleine Messer, mit dem wir den Kuchen zerteilt hatten. Ich fand, dass sie es sich sehr schwer machte. Dabei wäre es doch so einfach, es ruhigzustellen.

Während Keikos Freundlichkeit im Konbini und ihr Eifer, ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, für gewöhnlich beeindruckend sind, wirken Zitate wie das letztgenannte befremdlich und abstoßend. Es muss ihr jedoch zugutegehalten werden, dass sie es bei dem bloßen Gedanken belässt.

Wenn sich aus dem Roman eine Lehre ziehen lässt, dann ist es ein Plädoyer für mehr Akzeptanz alternativer Lebensweisen in der modernen Gesellschaft. Mag Keiko zu Anfang noch merkwürdig und etwas unzugänglich wirken, entwickelt sich spätestens beim Auftreten Shirahas eine starke Sympathie für sie. Der Kontrast zum unsozialen Verhalten Shirahas lässt Keiko glänzen. Der Roman zeigt: Unter den Sonderlingen sind es die Keikos dieser Welt, denen mehr Anerkennung und Respekt gebühren sollte.

Ein grandioses Debüt in Deutschland

Im Jahr 2018 brachte der Berliner Aufbau-Verlag Muratas Roman auf den deutschsprachigen Buchmarkt. Während er hierzulande ihr Debüt darstellt, hat Murata in ihrer Heimat Japan zuvor schon neun Bücher veröffentlicht. Nachdem sie bereits für ihre vorherigen Werke einige Preise gewonnen hat, erhielt sie für Die Ladenhüterin, ihren zehnten Roman, schließlich den wichtigsten Preis der japanischen Literaturwelt, den renommierten Akutagawa-Preis. Dieser ist nach Ryūnosuke Akutagawa benannt, der neben Sōseki Natsume und Dazai Osamu zu den wichtigsten japanischen Schriftstellern zählt und bis heute in japanischen Schulen gelesen wird.

Es verwundert daher nicht, dass für die Übersetzung des Romans keine geringere als Ursula Gräfe beauftragt wurde. Hierzulande ist sie, studierte Japanologin, Anglistin und Amerikanistin, vor allem als Übersetzerin Haruki Murakamis bekannt. Darüber hinaus verhalf sie auch Hiromi Kawakami, Ryū Murakami und Yōko Okagawa auf den deutschen Buchmarkt. So dürfen die Leser*innen hierzulande wohl durchaus optimistisch sein, dass auch Muratas frühere Werke eines Tages ihren Weg in die deutschen Buchhandlungen finden. Bis dahin können sie sich die Zeit mit der (erneuten) Lektüre der Ladenhüterin vertreiben – einem grandiosen Debüt aus dem Land der aufgehenden Sonne.

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