Ein Fest für die Sinne

Es wird getanzt, gesungen, gelacht: Der große Gatsby feiert im Deutschen Theater in Göttingen Premiere. Aus der Romanvorlage Fitzgeralds wird eine Vaudeville-Show, die ihre Zuschauer:innen in eine Illusion aus Glitz und Glamour entführt.

Von Marie Bruschek

Fotos: Thomas M. Jauk

»So kämpfen wir uns voran, Boote gegen die Strömung, unablässig getragen, der Vergangenheit zu«, spricht Nick Carraway die letzten Worte des Stücks. Dann sieht man kein:en Schauspieler:in mehr auf der Bühne – nur omnipräsentes grünes Licht scheint in den ausverkauften Saal. Als es erlischt, beginnen die Standing Ovations: Mit Erfolg endet die Premiere von Der große Gatsby im Deutschen Theater in Göttingen. Unter der Regie von Katharina Ramser wurde am 27. Januar die Vaudeville-Show nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald aufgeführt, die das Publikum für rund 150 Minuten in ihren Bann zieht.

Ein hübsches, kleines Dummchen

Ein gelungenes Gesamtkunstwerk aus tollen Kostümen, kreativem Bühnenbild, faszinierenden Choreografien und überzeugendem Schauspiel. Foto: Thomas M. Jauk

Der Stoff rund um Jay Gatsby, Symbol des American Dream, der für seine Geliebte Daisy dekadente Feste, ein glamouröses Leben und eine durchgeplante Zukunft bereithält, ist fest im Kanon der Weltliteratur wie auch im kulturellen Gedächtnis verankert. Zitate von Fitzgeralds Opus Magnum schwirren seit langem durch etliche Ecken des Internets, Baz Luhrmanns Film ist ebenso prägend, die Geschichte an sich kein neues Narrativ mehr. Der Twist von Ramsers Inszenierung: Passend zum Jazz-Age der 20er-Jahre in New York, in dem der fast 100 Jahre alte Roman spielt, lebt die Inszenierung von Gesang, Tanz und Performance. Hier fließt alles zusammen: tolles Kostümdesign, geniales Bühnenbild, faszinierende Choreographien und die Talente der Darsteller:innen.

Moritz Schulze brilliert als Nick Carraway, der durch die Aufführung führt. Zwischen den Dialogen und den Musical-Einlagen erzählt er und zitiert direkt aus der Romanvorlage, auch in den Dialogen erkennt man Fitzgeralds Sprache und Ausdrücke wieder. Als Gaia Vogel Daisy Buchanans wohl berühmteste Aussage macht – »Das ist noch das Beste, was ein Mädchen auf dieser Welt sein kann, ein hübsches, kleines Dummchen« –, wird aber klar, dass ihre Daisy keine passive, säuselnde Carrey Mulligan ist. Ihre Version ist markanter und präsenter, ihre Entscheidungen wirken umso einschneidender. Ein hübsches, kleines Dummchen ist sie jedenfalls nicht. Auch Golferin Jordan Baker (Nathalie Thiede) und Myrtle Wilson (Tara Helena Weiß), die Geliebte von Daisys Ehemann Tom Buchanan (Christoph Türkay), glänzen im Scheinwerferlicht. Schnell rücken Luhrmanns Film und die Buchvorlage in den Hintergrund.

Inhaltlich folgt die Vorstellung aber doch dem Roman, auch die Chronologie wird genauso beibehalten, mit entsprechenden Kürzungen. Die Songs dienen dabei nicht nur als weiteres Ausdrucksmedium der Charaktere, sondern auch als Überleitungen zwischen den Szenen, als Zeitsprünge und als Äquivalent zu bestimmten Beschreibungen des Buches. Für Gatsbys Feier singt Katharina Pittelkow »Puttin’ On The Ritz«, opulente Dekadenz und hedonistische Stimmung schwappen in den Zuschauersaal. Die herausfordernde Choreographie von Valentí Rocamora i Torá, die stellenweise an Burlesque und Cabaret erinnert, beweist das Können der Darsteller:innen.

Eine Illusion aus Glitz und Glamour

Das Bühnenbild besteht aus einer sich drehenden Fläche, leuchtenden Kabeln, die als eine Art vereinfachte Kronleuchter von der Decke herabgelassen werden, und im Hintergrund großen Wolkenkratzern, die mal die New Yorker Skyline darstellen, mal zusammengeschoben als Projektionsfläche dienen. Die soziale Topografie der Geschichte – West-Egg, East-Egg, das Tal der Asche, New York – wird in diesem Raum ausgelotet. Es ist ein Fest für die Sinne, den Partygästen der 20er-Jahre beim Singen und Tanzen zuzusehen, in Begleitung von einer Jazz-Band auf der gut ausgestatteten Bühne. Highlight ist unter anderem Volker Muthmann als Mr. Wolfshiem, der im Pelzmantel »Man with the Hex« singt – umgeben von Tänzer:innen. Geschlechtsunabhängig tragen alle hochhackige Schuhe, Makeup, einen schwarzen Spitzenbody und eine Anzughose – die zwischendurch auch weggelassen wird. Es ist überzogen, es grenzt an Camp.

Kostüme, die überzeugen (v. l. n. r.: Gaia Vogel, Michael Tucker, Paweł Malicki, Mar Sanchez Cisneros, Germán Hipolito Farías). Foto: Thomas M. Jauk

Stets bleibt jedoch eines präsent: Der schöne Schein ist eine Illusion, der Traum, den Daisy und Gatsby voneinander über Jahre kultivieren. So wird auf den zusammengeschobenen Wolkenkratzern eine Nahaufnahme von Gatsby (fantastisch gespielt von Daniel Mühe) und Daisy angestrahlt, als er ihr sein prunkvolles Anwesen zeigt. Die übergroßen Bilder der beiden zeigen im Vergleich zu den davorstehenden Schauspieler:innen, wie unerreichbar groß und inszeniert die vorgebliche gemeinsame Zukunft ist – eine Schwärmerei, der Gatsby alles unterordnet. Beide, Gatsby und Daisy, sind als einzige Figuren ganz in weiß gekleidet und dienen sich gegenseitig ebenso als Projektionsfläche. Nur ist das für Gatsby kein bloßer reminiszierender Flirt, sondern ein Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren.

Das Stück selbst ist eine Illusion aus Glitz und Glamour, aus Burlesque und Drama, spielt mit dem Trauma der ›Lost Generation‹ (wie Getrude Stein sie getauft hat), die es zurück nach Europa zog und der amerikanischen Gesellschaft der 1920er-Jahre. So liegt Gatsbys Haus exakt gegenüber dem der Buchanans, von deren Bootsanleger ein grünes Licht ihm stets eine ungreifbare, leuchtende Zukunft verspricht. So wie Gatsby auf dieses grüne Licht blickt und der Traum »bereits hinter ihm lag« – erscheint dieses so symbolträchtige Licht zum ersten Mal auf der Bühne, als die Vorstellung endet – und der Traum auch hinter den Zuschauer:innen liegt.

Hören Sie, »old sport«

Als sich Daisy vor Ehemann Tom nicht völlig zu ihrer Jugendliebe bekennt, zerfällt Gatsbys aufgebautes Imperium schlagartig. Das Dénouement beginnt an einem heißen Sommertag, führt Myrtles Tod herbei und letztlich auch denjenigen Gatsbys. Spätestens jetzt ist klar: Ganz ernst nimmt sich das Stück selbst nicht: Der Spaß, den die Inszenierung an sich selbst hat, ist spürbar, steckt an. Myrtle läuft kurzerhand blutüberströmt auf die Bühne zurück, um ein letztes Solo abzuliefern, umarmt ihren Mann George Wilson (Roman Majewski), nur um dann in seinen Armen zu erschlaffen. Wie Gatsby will sie aufsteigen, dem Tal der Asche entfliehen – doch auch ihr Streben wird zum Verhängnis. Sie kommt ums Leben, als sie aus dem Haus Wilsons fortläuft – direkt auf die Straße, wo ein gelber Wagen mit ihr kollidiert.

Wilson erschießt erst Gatsby und daraufhin sich selbst, die Zuschauer:innen zucken gleich zwei Mal nacheinander zusammen. Gatsby, der als einziger der Schauspieler:innen auch Englisch spricht – das berühmte »old sport« wurde zum Glück beibehalten – stirbt mitten im Gesang. Er, der für Nick der hoffnungsvollste Mensch ist, den er je traf, muss wie Myrtle für seine Ambition mit dem Leben bezahlen. Währenddessen machen Tom und Daisy leichtfertig mit ihrem Leben weiter, »the rich get rich, and the poor get poorer« singen die Schauspieler:innen prophetisch noch zu Beginn des Stücks. Der Schluss, deckungsgleich mit dem Buch und daher keine Überraschung, bewegt dennoch – es bleiben Scherben des Traumes zurück, gebrochene Charaktere und intakte gesellschaftliche Grenzen. Der protzige Glanz erweist sich als leere Hülle und die von Gatsbys erhoffte rauschende Zukunft als nostalgische Fantasie – die Illusion nimmt ein erschreckend reales Ende und löst sich in dem grünen Lichtstrahl auf, der direkt in den Zuschauersaal zielt.

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