Ein Blick über Kafkas Schulter

Wie nähert man sich am besten dem weltbekannten Schriftsteller Franz Kafka? Mit der sechsteiligen Miniserie Kafka von ARD und ORF anlässlich seines 100. Todestages erlebt man eine Illusion erster Klasse, indem verschiedene Perspektiven und Welten zu einem multidimensionalen Gefüge zusammengebracht werden.

Von Sidney Lazerus

Bild: via Pixabay, CC0

Die ARD-Serie Kafka (März 2024) mit Joel Basman in der Hauptrolle ist keine Serie, die einem die Biografie des berühmten Schriftstellers nüchtern näherbringt, nein – Kafka wartet mit viel Unterhaltung und Emotion auf: Spannung, Überraschung, Erschrecken und vor allem Drama – Glück hingegen findet man nur punktuell, weil Kafka selbst dies wohl immer nur für flüchtige Momente empfand. Da Reiner Stach als bekannter Kafka-Biograf – auf seinem dreibändigen Werk basiert das Drehbuch – auch als Fachberater der Serie fungierte, kann diese dem Publikum nahegelegte literaturhistorische Sichtweise auf Kafkas Leben und Person überzeugen.

Die sechs einzelnen Episoden folgen keiner Chronologie, vielmehr werden verschiedene, in Kafkas Leben prägende Personen und Bereiche in den Fokus gerückt. Zu Beginn stellt der nur akustisch auftretende Erzähler Michael Maertens zentrale Lebensdaten zu Kafkas Person vor, beginnend mit dem Satz »Das Leben des jüdischen Prager Versicherungsbeamten, Fabrikbesitzers und Schriftstellers Dr. Franz Kafka dauerte 40 Jahre und 11 Monate«, und steckt so die Spanne der darzustellenden Biografie, den Rahmen ab. Daniel Kehlmann und David Schalko als Drehbuchautor und Regisseur bauen das ambitionierte Projekt, Kafkas komplexes Leben in komprimierter Form filmisch darzustellen, durch die Eröffnung verschiedener Zugänge geschickt auf.

So handelt die erste Folge »Max« dem Titel gemäß von Kafkas bestem Freund Max Brod (David Kross), die zweite beschäftigt sich mit Kafkas Verhältnis zu seiner temporären Verlobten Felice Bauer (Lia von Blarer) und die dritte beleuchtet sein Leben mit seiner Familie. In der vierten Episode steht Kafka in seiner beruflichen Rolle als Versicherungsbeamter im Blickpunkt, eine Beschäftigung, die er überragend erfüllte, die ihn aber stark von seinem Schreiben entfremdete. Die letzten beiden Folgen drehen sich um Kafkas weitere Liebesbeziehungen, die mit seiner Übersetzerin Milena Jesenská (Liv Lisa Fries) sowie mit Dora Diamant (Tamara Romera Ginés), die ihn letztlich bis zu seinem Ende im Sanatorium begleitete.

Ein loyaler Freund oder ein Verräter?

In der gesamten Serie steht die enge Beziehung Kafkas zu Max Brod, authentisch gespielt von David Kross, im Mittelpunkt. Ein Mann, der Kafka in dessen Leben wie in der Serie unermüdlich in seinem Schreiben ermutigt. Er steht nach dessen Tod unter heftiger Kritik dafür, Kafkas Schriften und Manuskripte posthum veröffentlicht zu haben, wie ein zu Beginn dargestelltes Interview scharf demonstriert. Denn der letzte Wille Kafkas auf dem Sterbebett lautete doch: »Du musst alles vernichten. Nichts darf bleiben« (Zitat aus Kafka). Wie beurteilt man Brod? Der Perspektive der Serie nach ganz eindeutig als wohlwollenden, liebevollen Freund Kafkas – über den Tod hinaus. Brod schaffte es 1939, das hinterbliebene Werk seines Freundes mit dem letzten Zug aus Prag ins Ausland zu schaffen und der Welt zugänglich zu machen.

»Er war wie ein Literaturagent, der aber keine Anteile bekam.«

So beschreibt ihn der Erzähler. So werden Brods drei beste Freunde und Schriftsteller  (Franz Kafka, der Klavierlehrer Oskar Baum und der Redakteur Felix Weltsch) und viele andere dank ihm erst bekannt. Brod verpasst ihrer Vierergruppe wiederholt und trotz Protest mit einem sympathischen Lächeln den Namen »Prager Kreis«, die Freunde verbringen viele Abende zusammen, beispielsweise im Bordell oder im Theater, finden sich auch später stets zusammen, wenn sie einander brauchen. Die Serie stellt Max Brod als durchgängig loyalen Freund dar, der andere wichtiger nimmt als sich selbst, nie eine Gegenleistung erwartet. Kafkas gesamte Freunde stehen ihm immer zur Seite, obwohl Kafka mit seiner direkten Art oft taktlos ist, entsprechend seiner selbstkritischen Art auch die Werke anderer unverfroren bewertet. So bezeichnet er Brods Werke höchstens als »gut genug«, und das Theaterstück Franz Werfels (Christian Friedel) sei »ein dicker brauner Schlamm in drei Akten«, die Lektüre wie ein »Hindurchwaten durch reinen Schlamm« (Zitate aus Kafka).

Nervenzerreißender Alltag

Kafkas Familie steht insbesondere in der dritten Folge im Schlaglicht. Der Vater, dargestellt von Nicholas Ofczarek, ein herrischer, ungnädiger Mann, sitzt am Kopfende des Tisches. Die hasserfüllten Blicke und knurrend ausgestoßenen Worte, die der Vater dem Sohn zuwirft, der ihn offenbar mit jeder seiner Handlungen zur Weißglut bringt, lassen einen als Zuschauer:in den schweren Alltag mit so einem Vater erahnen. Nur in seiner jüngsten Schwester Ottla (Maresi Riegner) findet Kafka eine Stütze. Auch Kafkas Arbeit in der Unfallversicherungsanstalt prägt sein Leben nachdrücklich – die Bürokratie, etwas, das ihn quält, ihn von seinem eigentlichen Wunsch distanziert. »Dieses Büro frisst mich, es beraubt mich aller Kraft, es erdrückt mich. Wie soll ich unter diesen geistlosen Umständen schreiben?«, fragt er am Abgrund der Verzweiflung. Kafka kann nur nachts schreiben, in tiefster Nacht entstehen seine düsteren Geschichten.

»Es muss nachts sein. Und selbst die Nacht ist nicht Nacht genug.«

Eintauchen in die Tiefen eines komplexen Charakterbildes

Nicht nur dem Vater sind die Gewohnheiten des Schriftstellers befremdlich: So erstaunt Kafka die Menschen in seiner Umgebung wie die Zuschauer:innen zum Beispiel mit seiner besonders langen Art zu kauen (auch Fletchern genannt, eine äußerst gründliche, als gesund geltende Kautechnik), seinen jeden Morgen diszipliniert durchgeführten Gymnastikübungen oder seinem verwunderlich hohen Kichern. Joel Basman verkörpert Franz Kafka, als wäre die Rolle persönlich für ihn gemacht. Andere Eigenheiten des Schriftstellers lassen aber auch verzweifeln und machen die Schwierigkeiten des Umgangs mit Kafka deutlich, denn »Franz Kafka, der Selbstverkleinerer« gehe keinerlei Kompromisse ein, so Milena Jesenská im Verlauf eines zunächst idyllisch anmutenden gemeinsamen Spaziergangs durch den Wiener Wald. Auch seine lange, aber oberflächlich und ehelos bleibende Beziehung zu Felice Bauer ist das beste Beispiel für Kafkas Unentschlossenheit.

Kafka ist ein Schriftsteller, der viel bewundert wird, so z. B. von Robert Musil (gespielt von Verena Altenberger), aber die Menschen mit seinen oft grausamen Texten auch schockiert, wie mehrere Szenen in Kafka demonstrieren. Nach Werfel müsse man ihn nicht wie einen Mitmenschen behandeln, sondern so, als wäre er schon tot, als wäre er schon unsterblich. Denn die Durchschlagskraft seiner Werke lässt sich schon zu Lebzeiten mehr als erahnen. Trotz des Kafka zugeschriebenen umgebenden Nimbus und seiner oft eher ekpathischen Art empfindet man als Zuschauer:in starkes Mitgefühl, denn der Ausdruck, der dem von Basman verkörperten Kafka nach Werfels Worten flüchtig über das Gesicht huscht, ist weder stolz noch glücklich.

»Wer so gut ist wie Sie, der muss irgendwann entdeckt werden. Der bricht durch, dem hört die ganze Welt zu, es geht gar nicht anders. Eine Weile kann sie sich verschließen, dann aber nicht mehr.«

Literaturwissenschaftlich problematisch?

Die literarischen Werke Kafkas werden ebenfalls in die Serie eingeflochten. Das Besondere: Die Schauspieler:innen, die Kafkas Familie und Bekannte darstellen, verkörpern gleichsam die Figuren seiner Texte. Kafka spielt jeweils die Protagonisten, so z. B. in seinem bedrohlichen Urteil, ein Werk von »seltsame[r] Stimmung«, oder auch Gregor Samsa in Die Verwandlung: »Und so schrieb der Versicherungsangestellte Doktor Kafka im Alter von 30 Jahren die berühmteste Erzählung des 20. Jahrhunderts.« Vor allem die Brutalität der Szene, in der die Haushälterin den toten Käferkörper mit Gewalt so klein schlägt, dass nur noch feine Asche übrigbleibt, bedrückt beim Schauen und lässt, ähnlich wie auch die Figuren ihren Leseeindruck kommentieren, eine bizarre, erschütterte Stimmung zurück.

Kafka (2024)
Regie: David Schalko
Drehbuch: Daniel Kehlmann, Co-Autor: David Schalko
Drehbuchberatung: Reiner Stach
Kamera: Martin Gschlacht
Produziert von ARD/ORF
Bild: © NDR

Am Schluss ist Kafka selbst der Landvermesser K. in seinem letzten Romanfragment Das Schloss, der um eine Aufenthaltserlaubnis kämpft. Die Landschaft des Kurorts, an dem er sich aufhält, verwandelt sich durch Kafkas Augen in den Schauplatz seines Romans. Ist diese Deutung, d. h. die explizite Verbindung von Kafkas eigener Welt mit der Welt seiner Werke, eine scheinbare Gleichsetzung von Autor und Werk literaturwissenschaftlich und in Hinblick auf die Wirklichkeit angreifbar? Ja. Macht die Serie seine Texte aber umso begreiflicher, sie als Ausdruck seines zur jeweiligen Entstehungszeit gegenwärtigen Seelenlebens und seiner Lebenslage plausibel? Zweifellos. Auch wenn die Vermischung von Leben und Werk des Autors sicher schwierig bleibt, überzeugt diese Machart und Interpretation der Serie. Beide Ebenen fügen sich glaubhaft ineinander, ohne dass Verwirrung aufkommt. Umso deutlicher wird dadurch: Von Kafka bleibt unbestreitbar mehr als bloße Asche.

Ein Raum mit sechs Türen

Zeitweise wendet sich die Erzählerstimme direkt an das Publikum. Zu Beginn der einzelnen Folgen kündigt der Erzähler jeweils an, er wisse nun endlich, wie man mit dem Erzählen von Kafkas Leben am besten anfangen müsse. Eine Strategie, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen fesseln kann. Am Schluss aber kommt er zu der Einsicht, dass es eigentlich gleichgültig sei, wie man mit dem Erzählen beginnt, dass es gewissermaßen egal sei, welche Tür in Kafkas Leben man zuerst aufstoße – das Ende bleibe dasselbe. »Der Versicherungsangestellte und Schriftsteller Dr. Franz Kafka stirbt am 3. Juni 1924 in Kierling bei Wien einen schmerzhaften, schweren Tod.«

 »Egal, wie man anfängt – so hört es auf.«

Die Länge der einzelnen Episoden von jeweils etwa einer Dreiviertelstunde ist gut gewählt. Nach einer Folge braucht man eine Pause, um das Gesehene zu verdauen. Die Serie ist, um im Bild zu bleiben, keine leichte Kost. Sie hinterlässt eine bedrückende Stimmung, wie es bei einer Serie über Kafkas Leben wohl auch nur folgerichtig ist. Die entworfenen Bilder und Worte liegen schwer im Magen – und das nicht nur, weil man sie nicht oft genug durchgekaut hat.

Auf Expedition – Ein illusionsreiches Labyrinth 

Die Erzählweise der Serie ist insgesamt komplex, es gibt Wiederholungen von Szenen, Rückblenden, Verwandlungen der Darsteller:innen historischer Personen in literarische Figuren, direkte Wendung ans Publikum von Seiten des Erzählers und der Besetzung sowie auch mal ein skeptischer Blick in die Kamera. Auch der Erzähler selbst tritt in Interaktion mit den Darsteller:innen, diese schauen schon mal empört, wenn der Erzähler sie nicht ihrem Einverständnis entsprechend beschreibt und fügen ggf. Erklärungen oder Gedanken hinzu, indem sie kurz in die Erzähler:innenrolle schlüpfen. Die Serie spielt durch diese integrierten Perspektivwechsel mit der Wahrnehmung der Zuschauenden, vermittelt, dass es keine festlegbaren Tatsachen im Kafka-Universum gibt. Gleichzeitig bietet sie durch gewaltige Kreativität Unterhaltung, lässt die Serie nicht wie ein Lehrstück, vielmehr wie ein Kunststück wirken. Die einzelnen sechs Folgen verdichten sich zu einem facettenreichen, aber dennoch in sich schlüssigen Gesamtbild, die Serie passt sich der faszinierenden, rätselhaft bleibenden, d. h. kafkaesken Aura geradezu an.

 »Wenn man nur dabei sein könnte – unsichtbar – ihm über die Schulter schauen, dann würde man es vielleicht verstehen, das Rätsel des Dichter-Genius, das Geheimnis des Schöpfertums.«

So der Wunsch vieler Bekannter Kafkas. Nun, die Serie Kafka gibt einem als Zuschauer:in das Gefühl, genau dies mitunter zu können: Kafka bei seinem Schaffen gewissermaßen über die Schulter zu schauen, sich seiner Persönlichkeit und seinem Schreiben doch zumindest anzunähern. Dennoch bleibt Kafkas Leben ein Changeant, was die Serie kunstvoll vermittelt, mit der geglückten Verbindung von Fiktion und Historie noch unterstreicht. Der Blick über die Schulter bleibt ein mehrdeutiger. 

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