Martin Kordić stellt in seinem zweiten Roman Jahre mit Martha nicht nur eine ungleiche Beziehung mit großem Altersunterschied, sondern auch die schwierige Geschichte einer Migrationsfamilie in den Vordergrund. Ein vernünftiger Rückblick darauf ist auch eine Versöhnung.
Von Shuangpeng Shi
Die Dämmerung kommt aus bleichem Land.
Ich fühle müd: sie bringt den Abschied mit -.
Leb wohl… laß meine Hand…
Nein, mach kein Licht.
Ich will im Dunkeln gehen.
Diese Zeilen von Dichterin Hertha Kräftner liest der Protagonist Željko, als er am Ende des Romans Jahre mit Martha, geschrieben von Martin Kordić, als Gärtner arbeitet. Ähnlich wie das lyrische Ich im Gedicht thematisiert Kordić unterschiedliche Abschiede: Željko verabschiedet sich von seiner ersten Liebe Martha, seinem Professor Alex Donelli, seinem Lieblingssänger Michael Jackson, dem verstorbenen Großvater in Herzegowina und seiner ersten Arbeitgeberin Bettina Mallinger. Auf diese Abschiede blickt der ältere Ich-Erzähler in seinem jungen Erwachsenleben mit Kommentaren zurück, um die »eigene Anwesenheit zu dokumentieren«.
Eine scheinbar unmögliche Liebe
Der 15-jährige Željko, in den ersten zwei Dritteln des Romans nur Jimmy genannt, lebt mit seinen Eltern und den zwei Geschwistern in Ludwigshafen. Sein Vater ist als Gastarbeiter in Deutschland geblieben und arbeitet ununterbrochen auf Baustellen, während seine Mutter als Putzfrau schwarzarbeitet. Zwischen Martha Gruber, einer Professorin aus Heidelberg, für die seine Mutter unter anderem arbeitet, und Željko entbrennt eine unerwartete Anziehung und Liebe. Schnell wird eine in jeder Hinsicht unmögliche Liebesbeziehung Wirklichkeit. In der Anfangsphase ist diese Liebesbeziehung mit großem Altersunterschied voller Freude und Begeisterung, aber auch von Unschuld geprägt. Diese überdeutlichen Lebens- und Altersumstände versuchen sie durch verschiedene Strategien abzubauen: Er geht mit ihr zum ersten Mal in seinem Leben im Anzug ins Theater, sie trinkt Cola und rülpst dabei ihren Namen.
Martin Kordić
Jahre mit Martha
Fischer: Frankfurt am Main 2022
288 Seiten, 24,00€
Aber die tiefe Kluft zwischen den beiden lässt sich nicht schließen, weil Martha sich in einer übergeordneten finanziellen und sozialen Position befindet und es schließlich auch illegal und moralisch verwerflich wäre. Bei ihrer ersten Begegnung spricht Željko von seinem Lieblingsbuch – Goethes Die Leiden des jungen Werthers – das zu einer Metapher von Marthas und Željkos eigener Liebesbeziehung wird: einer voller emotionaler Ausbrüche. Im Gegensatz zum dramatischen Abschied im Werther wirkt die Abschiedsszene zwischen Martha und Željko mit einem Gespräch über Meer und Musik unerwartet ruhig. Auch während der Lektüre überwiegen in diesem Buch vor allem Ruhe und Gelassenheit. Diese ästhetische Besonderheit unterscheidet das Werk von anderen Liebesromanen, die teilweise mit Gewalt und Mord überladen sind.
Als Schwimmerin ist Martha Gruber erfahren und kräftig, während der junge Željko schwach und daher von ihr abhängig ist. Diese Abhängigkeit lässt sich auch in ihrer finanziellen Unterstützung feststellen: Nach dem Kennenlernen stellt Frau Gruber ihn für einen Sommer-Schüler-Job als Hausmeister und Tierpfleger ein und auch für sein Studium in München übernimmt sie später die Bürgschaft. Nach einem längeren Briefwechsel fährt er zu einem von Frau Gruber gebuchten Luxushotel, wo die beiden sich näherkommen. Die Abhängigkeitssymbolik setzt sich in Željkos Beziehung zu seinem Professor Alex Donelli fort, von dem er finanziell und akademisch abhängig ist: Željko gibt Seminare und unterschreibt Dokumente für ihn und wird schlussendlich betrogen.
Rückblick auf Irrwege
Die ruhige Atmosphäre im Roman wird auch durch den distanzierten älteren Ich-Erzähler erzeugt, der manchmal den jüngeren unterbricht und Kommentare zu seinen Erlebnissen in der Jugendzeit hinzufügt. Das erzählende Ich dient auch als Rahmen vom Roman. Am Anfang schreibt er: »Mir selbst will ich meine Geschichte erzählen, weil ich die Irrwege meines jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will, die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll.« Das erlebende Ich nimmt an Ereignissen in der Jugendzeit teil und vermittelt dadurch eine distanzlose Unmittelbarkeit, während das erzählende Ich über die Ereignisse reflektiert und eine distanzierte Betrachtungsweise ergänzt. Am Ende verschwindet die Doppelperspektive, weil der Erzähler nun in der Gegenwart seiner Geschichte angekommen ist.
Diese komplementären Perspektiven, in denen ein reflektiertes Fazit über eine Situation üblich ist, kommen normalerweise am Anfang eines Ereignisses. So lautet der erste Satz im zweiten Teil: »Heute kommt es mir so vor, als wäre unsere Geschichte von Beginn an eine Geschichte des Abschiednehmens gewesen.« Dies wirkt auf den ersten Blick zwar wie eine Vorwegnahme der Handlung, bietet aber ein ruhiges und entspanntes Leseerlebnis. Nach einigen Sätzen verstummen die Kommentare und Leser:innen können gespannt bleiben, wie die Handlungslinie zum angedeuteten Ende verläuft.
Er gehört nirgendwohin
Auch Kulturwechsel und Identität spielen bei Martin Kordić eine große Rolle. Sein Vater kam ebenfalls als Gastarbeiter nach Deutschland, weshalb sich die Problematik von Identitätsfindung aufgrund eines Migrationshintergrunds als großes Thema im Roman wiederfindet. Im Buch wird der Kulturwechsel zwischen Deutschland und Herzegowina geschildert, durch den Željko sich nirgendwo zugehörig fühlt: In Deutschland wird er als Ausländer behandelt, obwohl er hier aufwuchs, in Herzegowina ist er ein Gast. Darin ähnelt der Aufbau von Jahre mit Martha stark anderen Identitätsromanen.
Die Besonderheit dieses Romans besteht allerdings in der Darstellung der mühevollen Integrationsversuche einer Gastarbeiterfamilie. Dies spiegelt sich in vielen Details im Leben der Figuren wider: Als Martha die Familie besucht, besteht Željkos Mutter darauf, neben vielen selbstgebackenen Keksen, eine gekaufte Schwarzwälder Kirschtorte zu präsentieren, weil sie Martha gefallen möchte und glaubt, dass durch diesen sehr deutschen Kuchen zu schaffen. Andererseits wird im Buch auch thematisiert, dass Željko sich nicht zu dem Ursprungsland seines Vaters zugehörig fühlt. In einer Szene versucht der Protagonist, auf brüchigem Kroatisch eine Putzfrau in seinem Büro anzusprechen, die sich aber weigert, mit ihm Kontakt zu knüpfen. Nach langjährigem Engagement in einem kroatischen Fußballverein tritt er schließlich auch aus diesem aus, weil es dort viele Ausländerfeinde gibt, die selbst von Einheimischen als Ausländer betrachtet werden. Die Frage der Identität bleibt bis zum Ende des Romans unbeantwortet.
Jahre mit Martha stellt eine gute Rekonstruktion der Lebensgeschichte von einem lebhaften jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund dar. Mit Kommentaren als kurze Unterbrechungen der Handlung stehen eine besondere ästhetische Gelassenheit und neue Blicke auf eine Migrationsgeschichte im Vordergrund. Zum Abschied sagt Željko zu Martha »In Büchern gehen Geschichten nicht verloren.« Diese Aufgabe hat Martin Kordić mit Sicherheit erfüllt.