Drinnen im schwarzen Zelt

Die Ausstellung Stimmen – Sprachforschung im Krieg 1917 – 1918 widmet sich dem Verhältnis von Krieg und Wissenschaft am Beispiel des Göttinger Sprachforschers Friedrich Carl Andreas. Damit stellt sie wichtige Fragen, klare Thesen fehlen der Ausstellung jedoch an vielen Stellen.

Von Jana Faye Kelterborn

Bild: Jana Faye Kelterborn

Alles beginnt in einem langgezogenen Raum, der an einer Seite Videoinstallationen zeigt. Sechs einander teilweise überlappende Bildschirme zeigen gänzlich ohne Ton Personen in weißen und blauen Ganzkörperanzügen. Dann menschliche Körper, die aus einer gipsartigen Masse modelliert werden, mikroskopische Aufnahmen von Zellen und einen alten Mann mit einer Haube auf dem Kopf, die mit einigen Kabeln an eine Maschine außerhalb des Bildausschnitts angeschlossen scheint. Ist das schon Sprachforschung? Wenn, dann nicht aus Weltkriegszeiten. Obwohl die nächste Sequenz, die Nahaufnahme einer Hand, einen Bogen Papier in enger Handschrift mit Tinte füllend, schon danach aussieht.

Wenngleich diese Installation zur Basisausstellung im Forum Wissen gehört, ist es leicht, sie sich als kuratorisch eingebaute Überleitung zur unmittelbar folgenden Ausstellung Stimmen – Sprachforschung im Krieg 1917–1918 vorzustellen. Auf dem direkt daneben hängenden Banner wird in vier verschiedenen Sprachen – Deutsch, Englisch, Hindi und Arabisch – von der Kooperation des Forum Wissen und des Freien Göttinger Theaters boat people projekt berichtet: Der Göttinger Sprachforscher Friedrich Carl Andreas beschäftigte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den gesprochenen Sprachen im Gebiet des heutigen Afghanistan und Pakistan. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, nutze er dessen Auswirkungen für sich: Keine aufwendigen Reisen mehr in die Regionen seines Interesses waren nötig, stattdessen kamen Sprecher der von ihm untersuchten Sprachen, zu ihm nach Deutschland. Als Kriegsgefangene.

Zur Hand ein Leitfaden

Im Berliner Kriegsgefangenenlager Wünsdorf ließ Andreas in regelmäßigen Abständen einige Gefangene Aufnahmen einsprechen, Texte und Lieder. Fünf Gefangene ließ er nach Göttingen holen, wo er in Gesprächen mit ihnen Schriftaufzeichnungen des von ihnen Gesagten anfertigte. Das zu Beginn des Ausstellungsraumes ausliegende Booklet hält zu jedem der nummerierten Exponate einen kurzen Text bereit. Es empfiehlt sich, den Rundgang nicht bei Nummer 1 zu beginnen. Denn diese, wie überhaupt eine stringente Reihenfolge, sucht man erst eine Weile. Lieber schlendert man in Ruhe durch den Raum und blättert kurz im Booklet nach der passenden Nummer, wenn man vor einem Exponat stehen bleibt.

Stimmen misst nur einen Raum. Diesen füllen drei schwarze Zelte, ein paar Vitrinen aus Glas und ein langer Tisch. Auf dem Boden sind graue Rechtecke aufgezeichnet, in denen Zahlen notiert stehen. Es ist, wie man ein paar Schritte weiter erfährt, der Plan des Göttinger Kriegsgefangenenlagers. Jede Baracke trägt eine Nummer. Wenn jemand eines der Zelte betritt, ertönen Gesang oder gesprochene Worte, bei denen es sich um Originalaufnahmen von Gefangenen des Göttinger und des Berliner Lagers handelt. Abdul Kadir Khan war einer von ihnen. Aus der Kolonie Britisch-Indien, dem heutigen Pakistan, stammend, singt er in seiner Muttersprache Paschtu ein Klagelied.

»Diese kleinen Schluchzer, während ich einfach dastand
Die Sorgenkerze brannte in meiner Hand
(…)
Was nützen Augen, die nicht richtig sehen können
Alles was man tut, vergeht, oh Ahmad«

So heißt es in der Übersetzung. Andreas nahm Abdul Kadir Khans Gesang im Dezember 1916 im Berliner Kriegsgefangenenlager Wünsdorf auf.

Die Ausstellung bietet der spannenden Frage nach dem Wesen und Nutzen wissenschaftlicher Forschung in Kriegssituationen, wozu selbstredend auch kolonialistische Bezüge zählen, einen Platz. Gerade die realen Stimmen der Gefangenen zu hören, geht nahe und bleibt im Ohr. Allerdings bleibt man am Ende doch etwas ratlos zurück. »›Stimmen‹ versucht eine erste Annäherung an diese besonderen Forschungsdokumente: Wie lassen sich aus heutiger Perspektive die Forschungen Andreas’ bewerten[…]?«, schreibt das Forum Wissen auf der Website zur Ausstellung. Wirklich deutlich wird diese Beurteilungsabsicht aber nicht. Zu vage bleibt die damalige Rezeption Andreas’ durch die Gefangenen, zu lasch dessen eigene Einstellungen, und zu unverdichtet Informationen zu seinem Umgang mit den Gefangenen.

Potential für mehr

Wie war das Verhältnis zwischen Andreas und den Menschen beschaffen, deren Sprache im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses stand? Auf der einen Seite vermittelt die Ausstellung das Bild eines fürsorgenden Professors, der sich im Klaren darüber ist, dass seine »Forschungsobjekte« denkende und fühlende Menschen sind, die für ihre Mitarbeit ein Entgelt erhalten sollen. Dann ist da wieder der kaltblütige Forscher, der seine Position auf der stärkeren Seite der Macht auszunutzen scheint durch das Zensieren von Feldpost und schamlos von »meinen Afghanen« spricht. Oder ein versteckter Ausdruck von Zuneigung? Es scheint eine Ambivalenz vorzuliegen, die jedoch nicht deutlich genug herausgestellt wird. Ohne das Booklet bleibt man mit Überschriften allein; wirkliche Hintergründe zu den ausgestellten Fotos, Dokumenten und Tonaufnahmen findet man nur, wenn man ständig blättert. Es ist zu erwarten, dass die parallel zur Ausstellung stattfindenden Vorträge sowie die Theateraufführungen des boat people projekt die Ausstellung anreichern dürften, indem sie einem gelungenen Konzept die für Verständnis und Erkenntnisgewinn nötige Tiefe verleihen.

Die Sonderausstellung Stimmen – Sprachforschung im Krieg 1917–1918 ist noch bis zum 9. Juli 2023 dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr im Forum Wissen zu sehen. Am Mittwoch, dem 5. Juli 2023, beschließt ein 18:30 Uhr Martin Christof-Füchsles Vortrag Von Indien über die Westfront ins Deutsche Reich: Indische Kriegsgefangene in deutschen Lagern das Begleitprogramm.

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