Ivana Sajkos Familienroman ist weit entfernt von einfacher Geschichtserzählung und Faktenhuberei. Drei Geschichten verwebt die Autorin miteinander, lässt sie sich widersprechen und gegenseitig kommentieren. Das liest sich nicht immer leicht, aber ist mehr als gelungen.
Von Svenja Brand
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Wer in Ivana Sajkos Familienroman (Originaltitel Povijest moje obitelji od 1941. do 1991, i nakon, in Zagreb 2009 erschienen) ein episches Monumentalwerk im Sinne von Thomas Manns Buddenbrooks vermutet, irrt. Kurz, dicht, vielstimmig und fragmentiert ist Sajkos im März 2020 bei Voland & Quist erschienener Roman über »die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus«, wie es im Untertitel zunächst irritierend vage heißt. Auf schmalen 172 Seiten setzt die Autorin versatzstückhaft und wie in einer Collage Ausschnitte dreier Geschichten nebeneinander und lässt sie sich gegenseitig bespiegeln: Ihre eigene Familiengeschichte steht neben derjenigen der kroatischen Hauptstadt Zagreb und einer Narration, die sich durch von Sajko selektiv ausgewählte Ereignisse, Zeugnisse und Erinnerungen an die kroatische Geschichte ergibt.
Ivana Sajko schreibt über »die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus«, das heißt, sie schreibt von der Okkupation Zagrebs durch deutsche Panzer während des Zweiten Weltkriegs, von der faschistischen Ustascha-Regierung mit ihrem Führer Ante Pavelić und dem kroatischen Partisanenkampf. Sie schreibt von Folter und Krieg, von der Befreiung Zagrebs 1945 und vom ideologischen Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Vom Fortschritt und von vergeblicher Hoffnung, aber auch von Liebe. Sie schreibt von der Titozeit, von Zensur und Depression, von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, deren Zerfall und dem darauffolgenden Krieg, von Nationalismus und Terrorismus.
Keine Geschichtsstunde
Das klingt wie eine faktenlastige nationalhistorische Abhandlung, ist aber viel mehr und etwas ganz anderes. Programmatisch heißt es am Anfang:
Erzählungen über historische Tatsachen sind perspektiv- und ideologiegebunden, sind der Sphäre des Realen enthobene Fiktion und haben keinen Anspruch auf alleinige Wahrheit. Für Sajko ergibt sich aus dieser Feststellung eine allgemeine Schlussfolgerung, wie überhaupt Geschichte geschrieben und erzählt werden kann: multiperspektivisch nämlich, aus vielen Geschichten bestehend, »in sich widersprüchlich«, indem »absichtlich Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze ausgewählt« werden, »die miteinander in Konflikt stehen.« Das Beeindruckende an Sajkos Familienroman ist nicht allein die theoretische Reflexion über die Grenzen von Historiographie, sondern die praktische Umsetzung dieser Reflexion, das Inszenieren konfligierender »Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze« im Medium des »historischen Romans« – und den definiert Sajko neu: »Ich wollte einen historischen Roman schreiben, auf die einzige Art, die ich für möglich halte, unter Vermeidung sowohl des Genres« – weshalb vieles im Roman eher szenisch als prosaisch wirkt, wie ein Dramenskript, was auf Sajkos Hintergrund als Regisseurin verweist – »wie auch jeder Ideologie, wie eine Geschichte, die sich vielleicht gar nicht ereignet hat, die sich eigentlich gar nicht ereignen kann. Wir können nur von ihr träumen und sie später wie einen Traum nacherzählen. Absolut persönlich. Ohne irgendetwas zu behaupten.«
Von läutenden Glocken und der Geschichte, für die man nichts kann
»Absolut persönlich« und doch auch seltsam ins Überindividuelle entrückt sind die Figuren in Sajkos historischem Roman. Die Figuren, das sind die Menschen, die im Zentrum der kroatischen Geschichte zwischen zwei großen Kriegen standen, die sie mitgestaltet oder schweigend hingenommen haben. Vor allem sind das Sajkos Großeltern – die sich in der Partisanenarmee kennen und lieben lernen und kriegsbedingt von Traumata als läutenden Glocken im Kopf begleitet werden; als anonyme »er« und »sie« firmieren sie ebenso wie Sajkos Eltern als überindividuelle Identifikationsangebote –, aber auch Dichter wie Ivan Goran Kovačić mit seinem die Schrecken des Krieges anklagenden Gedicht Das Massengrab. Die Figuren, das sind auch die Menschen, denen die fünfzig Jahre zwischen 1941 und 1991 »scheinbar überhaupt nicht widerfahren sind«, das ist Ivana Sajko selbst. Als immer wieder die Erzählung streifendes Ich betätigt sie sich als dramaturgisch dichtende Historikerin, die Geschichte »als Nachwirkung geerbt«, wenn auch »nicht gewählt« hat.
Fiktion, Fragmente und Fußnoten
Das Romankonzept von Geschichtsschreibung als Fiktion spielt mit Kontrafaktion, durcheinandergewirbelten Zeugnissen und imaginierten Bildern – für dendie Leserin ist es daher nicht immer einfach, dem Plot zu folgen und die verschiedenen Patchworkelemente zuzuordnen, zumal wörtliche Rede unmarkiert in andere Dokumente übergeht oder statt Worten Zahlen die Kapitel überschreiben. In Sajkos Montage gehen Traum, fiktive Rede, Zitate aus literarischen Texten, Fragmente von mit Fußnoten versehenen realhistorischen Zeugnissen, Zeitzeugenberichte und zukunftsgewisse Erzählerrede ebenso ineinander über wie die Erzählperspektiven, die mal in, mal außerhalb der im Fokus stehenden Figuren zu verorten sind.
Ivana Sajko
Familienroman
Übers. von Alida Bremer
Voland & Quist: Berlin 2020
172 Seiten, 20,00 €
Die Geschichte, die Sajko erzählt, und die Art, wie sie es tut, sind komplex. Nicht nur, weil allen nicht mit der kroatischen Geschichte Vertrauten das historische Hintergrundwissen fehlt, um die Fragmente in Zusammenhang zu bringen. Nicht nur, weil manche der Szenen von so massiver Gewalt zeugen, dass es einer Lesepause bedarf. Vor allem sind es die Leerstellen im Roman, die für Sprachlosigkeit der Figuren oder Sajkos selbst angesichts der historischen Tatsachen stehen. Sie zwingen zu Pausen, um das Gelesene im Kopf nachhallen lassen und die Lesenden scheinbar dazu aufzufordern, ihre ganz eigenen persönlichen Bilder in die Geschichte einzubinden. Denn auch so funktioniert Geschichtsschreibung: indem Dinge nicht gesagt, offengelassen werden.
Tönende Leere und bösartige Tintenkleckse
Der Stil des Romans geht unter die Haut. Mal radikal sachlich, dann wieder unheimlich nah, zart und berührend, immer aber kunstfertig und mit enormer Wirkkraft gestaltet sind Sajkos Sätze, voll Sprachfertigkeit selbst die Szenen einer Folterung:
Hier wird das Opfer nicht zum Objekt. Es bleibt Subjekt, indem der Körper, dessen sich so zumindest in der Sprache die verbrecherischen Ustascha nicht bemächtigen können, aktiv etwas tut. Für ihre Schilderungen findet die Autorin Bilder und Metaphern von starker Ausdruckskraft, etwa auch für die beklemmende Atmosphäre in einer Wohnung, deren Bewohner*innen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion deportiert worden sind:
Oder für die Veränderung auf der Landkarte durch die kroatische Annexion Bosniens und Herzegowinas während des Zweiten Weltkriegs: »Ein Tintenklecks ungleichmäßiger Form, einem Melanom ähnlich […], ergoss sich plötzlich zu einer riesigen schwarzen Pfütze, die sowohl die Stadt wie auch das Land und den Himmel überflutete und die Sonne bis auf Weiteres vertagte. Sie ergoss sich auch über die Bewohner wie Erdöl über Kormorane, und sie versuchten vergeblich, sich zu reinigen. Die Schwärze verschmierte alles […]. Durch die schwarze Stadt irrten sie in Trauerkleidung. Eine andere brauchten sie nicht mehr.«
Versierte literarische Übersetzung
Die hohe poetische Wirkkraft ist auch Alida Bremer zu verdanken, die bereits Sajkos 2017 erschienenen und vom Berliner Haus der Kulturen mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichneten Liebesroman (Originaltitel Ljubavni roman, 2015) ins Deutsche übertrug. Ihr gelingt auch im Familienroman eine sehr versierte Übersetzung (Familienroman ist Sajkos früherer Roman, wird aber erst nach dem späteren Liebesroman ins Deutsche übersetzt). Besonders empfehlenswert ist eine Dokumentation von Bremers und Reflexion ihrer Übersetzungstätigkeit.
Absolut lesenswert
Familienroman verweigert eine schnelle und einfache Lektüre und präsentiert sich so als Gegenentwurf zu der Art von behaupteten »Tatsachen«, wie sie in faschistischen und anderen diktatorisch-totalitären Systemen als einzig gültige Doktrin proklamiert werden. All das macht den Roman komplex, ist aber auch dem Erzählten sehr angemessen. Insbesondere aber macht es ihn in einer Gegenwart, in der einfache und autoritär verordnete »Tatsachen« nicht nur in Ungarn, den USA oder Brasilien, sondern auch im Sprachhandeln der viel zu alten »Neuen Rechten« in Deutschland immer mehr Raum gewinnen, hochgradig aktuell und absolut lesenswert.