DJ, MC, LIQ: Festivalgedanken

Festivals sind schön und schrecklich zugleich, handelt es sich doch um Veranstaltungen, die dem Publikum neben der Musik vor allem das Narrativ verkaufen, besser zu sein als die Gesellschaft außerhalb. Ein musikalischer Bericht und Gedanken zur Festivalkultur am Beispiel des Liquicity Festival.

Von Frederik Eicks

Bilder: Frederik Eicks

Culture is healing – die Festivals kehren in die ländlichen Gegenden Europas zurück und mit ihnen die partyhungrigen, musikliebhabenden Menschenmassen, die ihre Festivaloutfits und Trichter nach zwei Jahren wieder aus dem Schrank holen können. Ein atemberaubendes Schauspiel, das irgendwie schön ist, aber schrecklich zugleich: Die Stimmung ist gut, aber etwas geht (oder bleibt) kaputt dabei. So auch auf dem Liquicity Festival, zu dem gleichnamiges Plattenlabel und Event-Organisator vom 15. bis 17. Juli 2022 ins Erholungsgebiet Geestmerambacht nahe der niederländischen Stadt Alkmaar geladen hat. Anders als der biologisch abbaubare Glitter auf den tanzenden Körpern ist der Glanz, mit dem hierher gelockt wird, nur falsches Spiel.

Das beginnt bereits beim Anspruch der Veranstalter, nicht nur ein reines Drum and Bass (DnB)-Festival zu sein, sondern auch einen besonderen Schwerpunkt auf das Sub-Genre des Liquid Drum and Bass (LDnB) zu legen. Wie ›liquid‹ die Musik tatsächlich ist, hängt nämlich stark vom jeweiligen DJ ab. Die im Gegensatz zum melodischen, atmosphärischen LDnB deutlich härteren Spielarten erfreuen sich auch auf dem Liquicity Festival immer größerer Beliebtheit, wie die Publikumsreaktionen in diesem Jahr deutlich zeigen.

Dö dö dö dö dö dö dödödö dö dö

Auf den drei Stages Lunar, Solar und Galaxy ist im Grunde für jede Person etwas dabei, auch wenn tendenziell die Sets zum Abend hin härter werden. Ungeachtet der musikalischen Ausrichtung ist am Programm erfreulich, dass mit Acts wie Switch/Case, Riya, Mollie Collins, Something Something, Ayah Marar und CaitC vermehrt weiblich gelesene Personen in einer sowohl von Producer- als auch von Publikumsseite her männlich dominierten Musikszene sichtbar werden. Tatsächlich sind im Gegensatz zu ihren weiblichen Kolleginnen die Sets einiger sehr erfolgreicher männlicher DJs – zum Beispiel von Dualistic (mit Jon Void), Metrik, Feint oder Maduk – an diesem Wochenende recht enttäuschend, weil sie einzig darauf abzielen, das Publikum mit denselben drei Tricks immer wieder anzuheizen: erstens der klassische Drop; zweitens der Drop, bei dem die Musik dann nicht nach vorne geht, sondern bis auf einen schummrigen Sub-Bass völlig rausgenommen wird; drittens die Hitrutsche, bei der ein beliebter Song an den nächsten gereiht wird.

Während ein Publikumsliebling wie Camo & Krookeds Sientelo ein guter, eigensinniger Song mit ungewöhnlichem Sample sein kann, handelt es sich leider oft um Songs wie Jon Voids Beautiful, deren Melodien sich in bester Nordkurvenmanier mit-dödöen lassen: dö dö dö dö dö dö dödödö dö dö. Spätestens nach dem dritten Mal wünscht man sich eine kreativere Songauswahl. Vor allem, wenn sich bei den ersten Tönen die nächsten halbnackten, sonnenverbrannten Pumper unhöflich schubsend bis vor die Bühne drängeln, wo es eigentlich schon voll ist – mit genug Muckis tut sich der Raum ja wie von selbst auf. Solches Verhalten, das überall auf dem Festival zu beobachten ist, widerspricht dem fröhlich verbreiteten, werbewirksamen Narrativ von einem besonders freundlichen Publikum. (Dazu später mehr.)

I don’t want to chase another high

Das Vorüberscheuchen von Höhepunkten, die zwanghaft aneinandergeknüpft werden, ist insofern schade, als sie in starkem Widerspruch zu dem stehen, was LDnB, von dem sich immerhin der Name des Festivals ableitet, eigentlich auszeichnet. Der charakteristische DnB-Drumbeat hat auch hier etwas Treibendes, wird aber konterkariert durch die Ruhe der ihn umgebenden Klanglandschaften und Melodienströme. Lieder des Genres haben oft keinen wirklichen Höhepunkt, sondern vollziehen ein minutenlanges Spiel mit der Instrumentierung, den ein- und aussetzenden Klangebenen. Als krasser Gegensatz zu solchen Sets, die sich ganz einer popmusikalischen Aufmerksamkeitsökonomie verschreiben, entsteht ein fein ausbalancierter Tanz- und Trancezustand. Davon zeugen weitestgehend vergessene Songs wie Memros Trick of the Tail und Fred Vs Paradise. In Everytime von Maduk – ironischerweise ein Song, der mit seinem hörbaren Pop-Einschlag eher in die andere Richtung geht – heißt es: »I don’t want to chase another high«.

Glücklicherweise finden sich auf dem Liquicity Festival einige DJs, die deutlich an eine weniger aufmerksamkeitsheischende Spielart des LDnB anknüpfen. Monrroe und LSB liefern LDnB-Sets ab, deren Unaufgeregtheit auf diesem Festival erfrischend wirkt und auch die Newcomer Creek und Dustkey überzeugen mit soliden Sets. Vor allem Etherwood und zu geringerem Teil Boxplot kreieren einen ausgesprochen abwechslungsreichen Sound, in dem ältere wie neuere Einflüsse zum Tragen kommen. Deutlich über die Grenzen des Genres hinaus gehen Itro, der leichtfüßig und gewitzt DnB, Dubstep, Pop und Future Bass verbindet, und natürlich der an diesem Wochenende über allem schwebende Netsky, einer der ersten großen Namen des Genres, der seinen gewichtigen Platz im Festivalprogramm als letzter Act am Sonntagabend mehr als nur rechtfertigt.

Netsky unbequem

Nicht nur ist die von Netsky abgedeckte Bandbreite von Genres bemerkenswert. Er brilliert außerdem mit ungewöhnlichen, kreativen Übergängen zwischen den Songs, lässt nervig fiepende Töne länger allein im Raum stehen, als es sich gehört, fordert das Publikum heraus – und spielt als Producer, der sich schon vor Jahren vom Genre entfernt hat und inzwischen mit Stars wie Rita Ora zusammenarbeitet, einige seiner Klassiker wie Eyes Closed, I Refuse und Lost In This World sowie Calibres und High Contrasts Mr Majestic. Diese Songs sind eindeutig im frühen, weitgehend höhepunktlosen LDnB zu verordnen. Damit ist Netsky der einzige Haupt-Act, der solchen Songs ihren Platz einräumt und in Kauf nimmt, sein Publikum ein wenig zu irritieren, es weniger abzuholen, als er mit seinem Geschick und Gespür könnte.

Dabei profitiert Netskys Set auch massiv davon, keinen MC (›Master of Ceremony‹) zur Seite zu haben. Es handelt sich für Personen, die mit der Livekultur des Genres nicht vertraut sind, um die eher gewöhnungsbedürftige Eigenart, dass es bei den Sets bekannterer DJs stets einen MC gibt, dessen Aufgabe es vor allem ist, vor dem DJ-Pult herumzuturnen, das Publikum anzuheizen und gelegentlich ein paar Verse zu rappen. Leider zeichnen sich viele MCs wie Mota und Fava durch verblüffende Instinktlosigkeit aus, reden zu viel oder überschätzen ihr Gesangstalent. Ausgesprochen peinlich moderiert Fava das Set von Etherwood an, indem er auf seine leuchtende Liquicity-Basecap hinweist, die ihm »a good friend of mine« geschenkt habe und die man ja käuflich am Merchandise-Stand erwerben könne. Die MCs Ben Verse und Innate wissen dagegen genau, dass ein gutes ›Mastern‹ der ›Ceremony‹ zu wesentlichen Teilen darin besteht, die Musik sprechen zu lassen.

Lass den LIQ rollen

Auch das gehört fest zum Liquicity Festival: eine ausgeprägte Konsumkultur, die von den hineingeschmuggelten synthetischen und pflanzlichen Drogen über deutlich zu teures Essen und zahlreiche Merchandise-Artikel reicht. Liquicity verkauft nämlich bei weitem nicht nur Musik oder Festivalkarten. Das Unternehmen verkauft auch ein Narrativ, das ein Space-Thema moralisch anfüllt: Über dem Festivaleingang prangt seit der ersten Festival-Edition der Schriftzug »Welcome to the Galaxy of Dreams«, auch der Ausdruck »Planet Liquicity« ist gebräuchlich. Die Mitglieder der Community, die »Liquicitizens«, gelten laut »Passport« (wie die Festivalbroschüre heißt) als »probably one of the nicest and most welcoming bunch of people in this galaxy«. Sie markieren ihre Zugehörigkeit zu dieser so viel besseren, alienhaft andersartigen Community mit einer erstaunlichen Dichte an Merchandise-Artikeln. Lässt man den Blick durch die Menge streifen, sind mehr Personen mit irgendeinem Liquicity-Accessoire zu sehen als ohne – Plastiksonnenbrille, Metallanhänger, Basecap, Tanktop, Armband, T-Shirt, Sportbeutel, Waist Bag, Fächer. Vielsagend: Eine CD, in deren Musik viele Arbeitsstunden fließen, kostet 5€, die billigst produzierte Sonnenbrille 10€.

Irgendwie geknickt – die Stimmung nach dem Festival. Bild: Frederik Eicks

Natürlich können solche Dinge in der ›Galaxy of Dreams‹ nicht in Euro oder irgendeiner anderen irdischen Währung erworben werden, sondern nur in LIQ. Um auf dem Festival irgendetwas – Portion Pommes, Paar Socken – kaufen zu können, muss man auf eine Plastikkarte, die man ›gratis‹ erhält und die dann aber mit -0,5 LIQ belastet ist, Geld laden. Dabei sind 1 LIQ = 3,33 €. Ein Schelm, wer den Organisator:innen mit diesem Wechselkurs Kalkül oder gar Profitgier unterstellen möchte. Ein normalgroßer Burger? Nur 3 LIQ! Gerade angesichts der Personen auf dem Festival, die wegen ihres Konsums nicht klar im Kopf sind, grenzt das an Missbrauch – denn natürlich wissen die Verantwortlichen ganz genau, wie viel auf ihrer Veranstaltung konsumiert wird. Übrig gebliebene LIQ können selbstredend zurückgebucht werden – gegen eine Gebühr von 1 bis 1,5 LIQ.

Im Reichtum vereint

Als verhältnismäßig kleine Veranstaltung mag das Liquicity Festival nur einige tausend Menschen versammeln, weiß aber in bester neoliberaler Manier, wie man aus diesen Menschen so viel Geld wie möglich herausquetschen kann. Die leise Veränderung der musikalischen Ausrichtung und die zunehmende Massentauglichkeit lassen außerdem vermuten, dass es damit nicht getan ist. Alle Zeichen stehen auf Profit. Dabei ist der eigene Genrefokus Fluch und Segen: Einerseits ist der DnB der Markenkern von Liquicity, ohne den sich das Unternehmen niemals hätte etablieren können, andererseits ist die DnB-Community klein und das Mobilisierungspotential wahrscheinlich ausgeschöpft. Nachdem der Gewinn für einzelne Veranstaltungen durch unfreundliche Bezahlsysteme und die geschickte Vermarktung von Merchandise maximiert ist, kann das Unternehmen Liquicity noch über die Anzahl der Veranstaltungen wachsen, die in den letzten Jahren schon stetig zugenommen hat. Wenn jedoch der Markenkern bleiben muss, wie erschließt man dann neue Kundschaft? Liquicity versucht es über das Narrativ, anders zu sein als die Gesellschaft da draußen, sodass Menschen zu den Events (im engen Sinn) kommen, denen an der Musik nicht gelegen ist, sondern am vibe.

Aber die MCs auf der Bühne können noch so viel von »unity« und »love« faseln – für diese Events gilt dasselbe Urteil, das Wolfgang M. Schmitt in seiner Analyse über den Bibi-und-Tina-Film Einfach Anders und CSDs fällt, auf denen Politiker wie Hendrik Wüst und Christian Lindner sprechen dürfen, die nicht gerade für eine sozialgerechte Politik stehen: »Anders ist gut – solange man Geld hat«. Wer nur wenig Geld hat, wird sich vielleicht über Monate hinweg das Geld für das Festivalticket und die Anfahrt absparen können. Doch wirklich frei zu tun und zu lassen, was er:sie möchte, ist auf dem Liquicity Festival nur, wer genug Geld hat, sich keine Gedanken um Geld machen zu müssen. Wer dazugehört, deckt sich natürlich mit den entsprechenden Produkten ein.

Die ›Galaxy of Dreams‹ ist eine verkorkste Utopie, eine Albtraumwelt, die sich in nichts von der spätkapitalistischen Erde unterscheidet, auf der wir ohnehin schon unser krisengeplagtes Dasein fristen. Wer mit dem eigenen Festival wirklich einen Wohlfühlort für alle schaffen wollte, könnte ja auch mit so einer dämlichen Idee wie den LIQ ein kleines Umverteilungsexperiment wagen: Alle wandeln zu Beginn des Festivals einen beliebigen Eurobetrag in LIQ um. Alle Personen können mit ihren Karten auf die Gesamtmenge an LIQ zugreifen. Was am Ende übrig bleibt, wird gleichmäßig auf alle Karten aufgeteilt. Aber das wäre den lieben, netten Liquicitizens sicher zu anders.

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