Katherine May lädt in Der Zauber der Welt: Trost finden in unruhigen Zeiten dazu ein, sich in einem Zeitalter der Entzauberung wieder verzaubern zu lassen. Um den Problemen der Zeit entgegenzuwirken, müssen wir in der Natur aktiv nach dem suchen, was uns fasziniert und verzaubert, so ihre Botschaft.
Von Malin Friese
Laut Katherine May ist der Zeitgeist unserer Gegenwart die Angst, nämlich die Angst vor dem Verpassen und Nicht-Schaffen all der wichtigen Dinge, die unsere Aufmerksamkeit erfordern: »Rennen ist das Gebot der Stunde. Alles ist so furchtbar dringend.« Die Autorin nimmt einerseits Bezug auf die Zeit während der Covid-19-Pandemie, andererseits auch auf die Zeit nach der Pandemie, da sie betont, wie viel Einfluss diese auf die Gegenwart hatte. Seitdem, so May, hetze jede:r von einer Aufgabe zur nächsten und vergesse dabei, was er:sie eigentlich genau tut und warum er:sie es tut. Katherine May warnt davor, dass die Sinnhaftigkeit unseres Lebens verloren gehe. »Es ist, als seien wir erst halbiert worden, dann geviertelt und als seien wir jetzt sowas wie ein sozialer Trümmerhaufen.« Probleme, die daraus resultierten, seien Einsamkeit, die Unfähigkeit, eigene Erfahrungen auszudrücken und eine ständige Wachsamkeit, die einen andauernd angstvoll über die Schulter schauen lasse.
Der Zauber der Welt: Trost finden in unruhigen Zeiten der englischen Autorin May erschien 2023 zunächst unter dem Titel Enchantment. Reawakening Wonder in an Exhausted Age im Londoner Faber Verlag und wurde dann von Marieke Heimburger ins Deutsche übersetzt, bevor er im September 2023 im Insel Verlag veröffentlicht wurde. Genau wie ihr international erfolgreicher Ratgeber Überwintern. Wenn das Leben innehält aus dem Jahr 2022 zeigt Katherine May in ihrem aktuellen Buch erneut, wie das Leben durch mehr Achtsamkeit und Ruhe verbessert werden kann. In beiden Ratgebern verbindet May ihre Gedanken und Vorschläge mit persönlichen Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben, weshalb es viele autobiografische Bezüge gibt.
Faszinierende Wunder der Natur
Katherine May nimmt die Leser:innen in Der Zauber der Welt mit auf eine Reise durch die vier Elemente, die das Buch strukturieren: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Dabei beschreibt sie im ersten Kapitel zum Element Erde ihre persönlichen Erfahrungen, die sie als Kind mit diesem Element gemacht hat. Früher habe sie sich von der unperfekten Natur verzaubern lassen, auch wenn diese nicht unbedingt schön gewesen sei. Denn Verzauberung habe nichts mit Schönheit zu tun, sondern damit, nach Tiefe, Sinn und Gefühlen zu suchen, was Erwachsene häufig durch Daten, Fakten und Vernunft verdrängen würden.
»Ich möchte mich wieder verzaubern lassen.« Mays Definition dieser Verzauberung erinnert sehr an die Romantik. Es geht ihr um die Fähigkeit, kleine Wunder, Faszination und Ehrfurcht im Alltag wiederzuentdecken, indem man sich mit der echten, wilden, unperfekten Natur verbindet. Kurze Abschnitte geben konkrete Beispiele dafür, wie May sich etwa mit dem Element Erde verbindet: barfuß über Gras laufen, den Boden unter den Füßen spüren, einen Kieselstein in die Hand nehmen. All dies ermöglicht es ihr, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, sich nicht in Routinen zu verlieren und dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens entgegenzuwirken.
Kollektive Introspektion
Dieser Appell zur bewussten Wahrnehmung der Umgebung spiegelt sich auch in Mays Schreibstil. Sehr ausführlich beschreibt sie Details der Natur und verbindet diese mit ihren philosophischen Gedankengängen, die nicht immer leicht zu verstehen sind. »Deep Play [ein Zustand, bei dem man sich wie bei einem Spiel vollkommen in eine freudige Aufgabe vertieft] ist ein Labyrinth, kein Irrgarten, ein verschlungener Pfad ohne Ziel. Es geht darum, sich hindurchzubewegen. Zu gehen. Immer weiter, endlos.« Wie die Romantiker:innen versucht sie, mit Worten etwas auszudrücken, was sich nur schwer in Worte fassen lässt, weil man es eigentlich selbst erleben muss. Aus diesem Grund sind die erzählerischen Passagen und Rückblenden sehr hilfreich, um ihre intensive Introspektion zu verstehen.
Allerdings schafft May es trotzdem, ein Kollektivgefühl zu kreieren, durch das jede:r angesprochen wird, da sie jede:n dazu einlädt, selbst einen Blick in sein:ihr Inneres zu werfen. So beschreibt May kollektive Herausforderungen wie die Suche nach einer passenden Religion, die Schwierigkeit, als Einzelgänger Teil einer Gemeinschaft zu werden, und die Notwendigkeit, sich Altes abzugewöhnen und von anderen Neues zu lernen. Dies alles verbindet sie mit ihren Naturerfahrungen, beispielsweise mit dem unberechenbaren Meer, den Gezeiten und dem Mond. Dabei kritisiert sie: »Früher gab es mal ein Band des Verstehens« – ein Verstehen voneinander, indem Erinnerungen, Traditionen und Sichtweisen miteinander geteilt wurden- »das sich von Generation zu Generation spannte, aber es ist schon vor langer Zeit gerissen. Das Einzige, was ich noch geerbt habe, ist das Vergessen.«
Suche nach Tiefe
Ihre Lösung gegen diese Gefahr des Vergessens von dem, was unserem Leben Sinn verleiht, sieht May unter anderem in der faszinierenden Kraft des Feuers. Dieses Element erinnert sie auch im metaphorischen Sinn daran, dass jede:r selbst das Feuer der Leidenschaft und der Motivation in seinem:ihrem Inneren entfachen muss. Diesbezüglich erzählt die Autorin, wie sie dafür gekämpft habe, ihr eigenes Spiel mit den Worten trotz entmutigender Meinungen anderer wiederzuentdecken und, nachdem sie das Schreiben eigentlich schon längst aufgegeben hatte, wieder damit anzufangen.
May betont mehrmals, wie wichtig es sei, aktiv nach Verzauberung zu suchen. Zwar umgebe uns das Faszinierende überall, doch jede:r müsse selbst danach Ausschau halten und es wahrnehmen. Statt sich nur mit der Oberfläche der Wahrnehmung zufrieden zu geben, sollte man der Natur und der Landschaft um sich herum mehr persönliche Bedeutung zuschreiben, denn nur so könnten wir der ständigen Hektik und der Angst unseres Zeitalters entgegenwirken. So sehr May auch versucht, ihre Idee der Verzauberung verständlich zu machen, bleiben am Ende viele Fragen offen. Unter anderem lässt sich in den letzten Kapiteln zum Element Luft nur schwer nachvollziehen, was Brockengespenster und Bienenzucht mit dieser Verzauberung zu tun haben. Der Zauber der Welt ist kein gewöhnlicher Ratgeber für jede:n, sondern ähnelt viel mehr den philosophischen Schriften der Romantiker:innen, die viel zu sagen hatten und bei ihrem Versuch, diese neuen Ideen auszudrücken, häufig Rätsel aufwarfen.