Provokationen der AfD mehren sich. Das Göttinger Bündnis zum Gedenken an die Opfer des NS diskutierte deshalb im Alten Rathaus mit Gästen aus Wissenschaft und Gewerkschaft über das Erinnern in Zeiten des Rechtsrucks. Die vorgesehene Teilnahme Esther Bejaranos fiel leider aus.
Von Stefan Walfort
Bild: ©Fabian Beck
Was hätte Esther Bejarano wohl zum neulich erschienenen und heftig diskutierten Roman Stella von Takis Würger gesagt? Hätte sie etwas zum Schreiben über die Shoah gesagt und dazu, wie ein künftiger literarischer Zugang zu den NS-Verbrechen überhaupt und vor allem angemessen aussehen könnte? Etwas über Schriftsteller*innen, die sich damit in einer ganz besonderen Tradition verorten? Ruth Klüger, Primo Levi, Peter Weiss ‒ die drei Namen sind neben einigen anderen im kollektiven Gedächtnis unmittelbar mit der Gattung Shoah-Literatur verbunden. Und mit der Herausforderung, die es bedeutet, eine angemessene Sprache dafür zu finden. Alle drei haben ihre Wege gefunden. Klüger berichtet beispielsweise in weiter leben von Gedichten, die sie manchmal für ihren Vater erdachte. Dieser wurde ihr gewaltsam genommen. Die Nazis hatten ihn mit vielen anderen in eine Gaskammer gesperrt. Seine Tochter trieb damals der Gedanke um, er könne im Todeskampf »auf Kinder getreten [sein], auf Kinder wie mich«. Denn:
Dass Panik die bedrohten Menschen zu Unerträglichem trieb und dass sie viel Kraft und viel Geschick benötigten, um zu überleben, haben auch Levi und Weiss und viele andere thematisiert. Wer behauptet, zwischen 1933 und 1945 hätten auch außerhalb der Konzentrationslager unter den Juden manche vermeintlich Starke auf Schwächere getreten, spricht nicht mehr als eine Binse aus, kämpften doch auch Verfolgte jenseits der Lager stets um die schiere Existenz. Auch sie mussten jederzeit damit rechnen, abgeholt und deportiert zu werden. Wen wundert es also, dass sich Würger mit seinem neuen Roman über eine der jüdischen Kollaborateurin Stella Goldschlag nachempfundene Figur eine Flut von Verrissen einhandelte? Mangelnde Sensibilität, fehlende Sorgfalt und nicht zuletzt ein Forcieren »möglichst starker Reflexe« ‒ so lauteten die noch harmlosesten Vorwürfe.
Weite Teile der Presselandschaft kolportierten, offenbar ungeprüft, gar Angaben eines Anwalts, denen zufolge Würgers Roman aus Stella eine Täterin mache. Micha Brumlik etwa behauptete, Stella unterschlage, dass Goldschlag nur aufgrund brutaler Gewalt so handelte, wie sie es tat: In einem Gestapokeller musste sie grausame psychische und physische Folter ertragen. Die Täter drohten anschließend, ihre Eltern zu ermorden. Daraufhin entmenschlichten die Peiniger Stella; sie schufen aus ihr einen »perfekten Köderjuden«, um es mit den Worten der Romanfigur Tristan, eines SS-Manns, auszudrücken. Man zwang sie, Juden auf der Suche nach Verstecken oder Fluchtmöglichkeiten in die Falle zu locken. Welche andere Option wäre ihr geblieben, als zu gehorchen? Und so hat Brumlik natürlich recht, wenn er sie als Opfer anerkannt sehen will. Der Haken an der Sache aber ist: diese Anerkennung schließt der Roman gar nicht aus.
Die fehlende jüdische Perspektive
Dezidiert berichtet Stella auf über zehn Seiten von diversen Dimensionen der Gewalt, der Stella seitens eines Mannes mit dem zynischen Decknamen »der Gärtner« ausgeliefert ist. Nachdem er sie, die er für »Unkraut« hält, das es zu entfernen gelte, misshandelt hat, setzt er sie auf »den jüdischen Urkundenfälscher Cioma Schönhaus« an. Stella führt vor, mit welcher Perfidie die Nazis aus den Opfergruppen einzelne herauspickten, um sie aktiv in die Vernichtung aller Zugehörigen einzubinden. Insofern hat der Roman bei aller berechtigten Kritik gewiss auch seine Stärken. Das zu übersehen, ist vermutlich einer starken Emotionalität geschuldet. So nachvollziehbar sie bei dem Thema auch sein mag, so hinderlich ist sie für einen sachverständigen Blick auf Bücher wie Stella. Vielleicht wäre Esther Bejarano etwas Ratsames dazu eingefallen, auch wenn die Historikerin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Cornelia Siebeck am 31. Januar auf dem Podium im Alten Rathaus dafür plädierte, sich nicht auf die »Ikonen, die die Überlebenden für manche sind, zu verlassen, zu meinen, die werden es schon richten«.
Nur kennt sich Bejarano selbst mit dem Schreiben über die Shoah aus. Unter anderem hat sie über ihre eigene Verschleppung nach Auschwitz publiziert. Gerade deshalb ist es schwer zu akzeptieren, was sie nun ganz plötzlich und unerwartet, aufgrund eines Sturzes, antizipierte ‒ nämlich das, was in einigen Jahren unausweichlich für ewig der Fall sein wird: Die Überlebenden fehlen. Sowohl das zweiköpfige Moderator*innen-Team, Anna und Arne, als auch die drei Gäste, Cornelia Siebeck, der Historiker Habbo Knoch und ‒ eingesprungen für Bejarano ‒ die Gewerkschaftssekretärin Agnieszka Zimowska, gaben sich zwar alle Mühe, die nun fehlende jüdische Perspektive zu problematisieren. Doch da nun keine Person mit schriftstellerischen Ambitionen mehr vertreten war, spielten Fragen nach der literarischen Vermittlung der spezifischen Leidenserfahrungen keine Rolle. Aber auch ohne solche Fragen sind die Herausforderungen, mit denen sich die Gedenk- und Gedenkstättenarbeit derzeit konfrontiert sieht, komplex genug. Alle fünf Personen legten sich ordentlich ins Zeug, um der Vielfalt der zu bewältigenden Aufgaben wenigstens ansatzweise gerecht zu werden.
Ein »Kulturkampf« um Geschichts-Narrative
Knoch verwies mehrfach auf eine derzeit in der Gedenkstättenarbeit spürbare Umbruchsituation. Nicht nur die Stimmen der Überlebenden verstummten, auch die Generation der Zweitzeug*innen – gemeint sind die in den Gedenkstätten angestellten Expert*innen für Erinnerungsarbeit – würden abgelöst durch eine neue Generation. Darin könne man einerseits die Chance auf einen längst fälligen Paradigmenwechsel erkennen: weg von der Idee, Gedenkstätten nur als Orte rein historisierender Erinnerung, als Museen, zu begreifen, hin zu einem neuen Vermittlungsauftrag: Bis dato war es stets üblich, sich pauschal gegen jedwede Konstruktion von Parallelen zwischen den Leidenserfahrungen der Shoah-Opfer und aktuellerem Unrecht zu sperren. Mittlerweile zeichne sich ein Trend ab, stärker zu differenzieren. Spezifika des Leidens würden demnach zwar immer noch hervorgehoben. Gleichzeitig sei es jedoch kein Tabu mehr, Gemeinsamkeiten ebenso zu betrachten. Andererseits sei noch längst nicht ausgemachte Sache, wohin Aushandlungsprozesse zwischen den vielen Beteiligten, unter anderem den Stiftungsräten der Gedenkstätten und den kommunalen Behörden, führen werden.
Einflüsse der in einigen Stiftungsräten inzwischen vertretenen AfD verkomplizierten alles zusätzlich. Im Umgang damit kristallisierten sich teils Tendenzen heraus, die AfD mittels verwaltungstechnischer Tricks fernzuhalten. Weil dergleichen es der Partei aber leichtmache, sich eine Opferrolle anzumaßen, plädierte Knoch dafür, es wie sein Kollege Jens-Christian Wagner, der Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, zu halten ‒ einen Ausschluss der AfD inhaltlich zu begründen1Wie eine vorbildliche inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD aus literaturwissenschaftlicher Sicht aussehen kann, stellte vor kurzem der Göttinger Professor Heinrich Detering unter Beweis: https://www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-beitraege/detail/Impulsvortrag-Zur-Rhetorik-der-parlamentarischen-Rechten-Wer-ist-wir-Prof-Dr-Heinrich-Detering–413s, letzter Aufruf: 09.02.2019., offen zu kommunizieren, »dass es mit den Zielen einer Gedenkstättenstiftung nicht vereinbar ist«, in die Beschlüsse über die Erinnerungsarbeit Personen einzubeziehen, die regelmäßig durch Herunterspielen der NS-Verbrechen auffallen. Schon zu Beginn der Diskussion zählte Anna einige entsprechende Vorkommnisse auf, darunter Shoah-Leugnungen der bis vor kurzem für die AfD in Schleswig-Holstein als Vorsitzende aktiven Doris von Sayn-Wittgenstein und Provokationen des Bundestagsabgeordneten Stefan Brandner im Gespräch mit Volkhard Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald.
Den Umgang mit der AfD und der sogenannten Neuen Rechten samt deren Neonazi-Gefolgschaft sahen alle auf dem Podium als eines der drängendsten Probleme an. Mit Verweis auf Hannah Arendt sagte Knoch, nichts weniger als ein verfassungsrechtlich verbrieftes »Recht, Rechte zu haben«, stehe auf dem Spiel. Dabei nahm er über die rechte und rechtsextreme Szene hinaus auch deren Epigonen in den demokratischen Parteien wie in Teilen der gesellschaftlichen Mitte ins Visier. Damit hatte er die beiden anderen Gäste auf seiner Seite: Zimowska hob mit Blick auf die Gewerkschaftsmilieus mehrfach hervor, mit welch hoher Alarmbereitschaft der DGB teils erfolgreiche Versuche der Neurechten beobachte, an klassische Arbeiter*inneninteressen anzuknüpfen. Siebeck konstatierte einen schon länger anhaltenden »Kulturkampf«: Schon in den Nachkriegsjahren hätten sich Verfechter*innen eines Narrativs von einer angeblich positiven nationalen Geschichte in die Debatten um Aufarbeitung des NS-Unrechts eingemischt. Damit seien vielfach vorhandene Schuldabwehrmechanismen befeuert worden. Ständig wiederkehrend hätten Anhänger*innen solcher Erzählungen seitdem mit Befürworter*innen eines »kritisch-reflexiven Geschichtsbewusstseins« um Deutungshoheiten gestritten.
Expert*innen als Teil eines »Establishments«?
Nie, so waren sich alle Anwesenden einig, habe das Kritisch-Reflexive, das durch Institutionalisierung des Gedenkens eine Art Konsens zu stiften versucht habe, in allen Teilen der Gesellschaft Anklang gefunden. Doch über diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus klafften die Analysen auseinander: Knoch adressierte die Ingroup der kritisch-reflexiv Gesinnten und warb dafür, eine eigene, Teil des »Establishments« gewordene, Position sowie eine »Selbstgenügsamkeit der Erinnerungsarbeit« zu hinterfragen. Siebeck grätschte dazwischen. Statt sich auf den Establishment-Begriff, einen diffamierenden Begriff der Gegenseite, einzulassen, müsse mühevoll um den Erhalt eines kritisch-reflexiven Minimums gerungen werden. In Teilen uneinig war man sich ferner bei der Frage, ob und wie bisherige Tendenzen zu einer Ritualisierung zu überwinden seien. Während Knoch bestimmten Formen ritualisierten Gedenkens einiges abgewinnen konnte, zumal sich dadurch Anlässe zum Erlernen von Empathie ergäben, sah Siebeck ein solches Empathieverständnis als unterkomplex an. Aber erfreulich sei es dennoch, dass der diesjährige Holocaustgedenktag, der 27. Januar, viele junge Menschen zu den Gedenkstunden hin mobilisiert habe. Auch sie halte »den symbolischen Gehalt« solcher Zusammenkünfte durchaus für wichtig.
Trotzdem müssten in einem »schwierigen Reorganisierungsprozess« auch manch alte Strategien auf den Prüfstand. Dabei gelte es vor allem Floskeln à la »Nie wieder!« hinter sich zu lassen. Denn damit habe man sich viel zu lange in trügerischer Sicherheit gewähnt, während es an Aufmerksamkeit für die Opfer rechtsextremer Gewalt, die es permanent gegeben habe, mangelte. Wie aber sowohl Knoch als auch Siebeck und Zimowska betonten, sei es unter Expert*innen der Erinnerungsarbeit mittlerweile üblich, beispielsweise anhand von Konzepten zum Erinnern in Migrationsgesellschaften, auszuprobieren, inwieweit neue Perspektiven in handfeste Projekte einbezogen werden können.