Die Seele säubern

John Williams erzählt die Geschichte von Arthur Marxley, der nach einem aufwühlenden Wiedersehen mit seinem Vater auf der Suche nach menschlicher Wärme durch die Nacht irrt. Er wird getrieben von den Erinnerungen an einen traumatisierenden Selbstmord, Scham und einem Ekel vor der Welt.

Von Franziska Joecks

Bild: Daw8ID via pixabay / CCO

»Wer könnte das schon, die Seele säubern?« Diese Frage stellt den thematischen Kern der knapp 160-seitigen Novelle Nichts als die Nacht von John Williams dar. Arthur Marxley, der Protagonist, versucht seine Seele durch Verdrängung rein zu waschen von den Erinnerungen seiner Vergangenheit, von Scham, Ekel und Schmerz. Er merkt dabei nicht, wie er geradewegs in seinen Untergang steuert, denn wie die Rhetorik des Satzes schon vermuten lässt, kann niemand seine Erinnerungen vergessen – besonders nicht, wenn man sich wie Marxley permanent zum Vergessen zwingen muss, und dieses Vergessen genau dann zum bewussten Erinnern wird.
Nichts als die Nacht ist die Erzählung über einen jungen Mann, der durch den traumatisierenden Selbstmord der Mutter zum einsamen, depressiven und ruhelos Umherirrenden mutiert und dessen Wiedersehen mit seinem Vater zum Schlüsselerlebnis für das unabwendbare Erinnern wird, an dessen Ende schließlich die Katastrophe steht.

Die Seele von Erinnerungen befreien – das schien auch John Williams gewollt zu haben, als er die Novelle 1948 nach einem Flugzeugabsturz während des Zweiten Weltkriegs mitten im burmesischen Dschungel schrieb. Man stelle ihn sich vor, wie er als Überlebender, mit Toten in unmittelbarer Umgebung, in einem notdürftig zusammengeflickten Unterschlupf hockt und die Erzählung auf zusammengeklaubte Blätter kritzelt, um für einen Moment zu fliehen vor dieser schockierenden Realität, die er nicht zu fassen vermag. Zu Recht wird dieses Werk von Simon Strauß, dem Historiker, Schriftsteller und Sohn des Autors Botho Strauß, als »das Buch eines jungen Wilden« beschrieben, »der wütet, weil er sein Inneres nicht nach außen bringen kann.«1Nachwort zu Nichts als die Nacht.
Erst posthum erlangte Williams, der nach dem Krieg als Professor für Literatur in Denver tätig war, durch seinen Roman Stoner, der zum Welterfolg wurde, Berühmtheit und zählt heute zu einem der wichtigsten Autoren der klassischen Moderne Amerikas. 2017 erschien seine Novelle Nichts als die Nacht erstmals auf Deutsch.

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John Williams
Nichts als die Nacht

dtv Literatur 2017
160 Seiten, 18,00€

Wüten tut Williams wirklich, wenn er in Schachtelsätzen, die in ihrer Kommaanzahl an die Sätze Thomas Manns erinnern, das Chaos und die Verworrenheit des Innenlebens Marxleys darzustellen versucht. Doch es funktioniert: Während Marxley durch die Nacht zu einer aufwühlenden Begegnung mit seinem Vater irrt, schafft Williams es, nach und nach, die so lange unterdrückten Erinnerungen an die traumatischen familiären Vorkommnisse, die für Marxley erst ganz zum Schluss überhaupt aussprechbar werden, aus dem Bewusstseinsnebel des Protagonisten aufsteigen zu lassen.

Überhaupt wird mittels Syntax viel über die inneren Befindlichkeiten Marxleys gesagt: Die zahlreichen Passivkonstruktionen zeigen zum Beispiel an, dass der junge Protagonist durch die Nacht getrieben, gestoßen und mitgezogen wird: Von Scham, von Ekel vor der Welt und besonders von den Erinnerungen, die er glaubte verdrängt zu haben, die aber stets unbewusst sein gesamtes Handeln bestimmen und am Ende doch gewaltsam, unkontrollierbar ausbrechen. Nur mit Claire, einer Frau, die er in einem Tanzlokal trifft, gelingt es ihm für einen Moment, sich in die gesichtslose Masse einzuordnen. Vom Alkohol berauscht, gerät er in eine ambivalente Hochstimmung aus sexueller Erregung einerseits und einer weiterhin bestehenden Abscheu, die sich unvorhersehbar immer wieder über das entstehende erotische Verhältnis zu Claire legt. Diese emotionale Zerrissenheit kennzeichnete auch schon das vorherige Gespräch mit seinem Vater, für den er eine Mischung aus Mitleid und Hass zu empfinden scheint. Marxley versucht im Verlauf verzweifelt eine Balance zu finden zwischen den oberflächlichen Gefühlen der Ablehnung und den tief verborgenen Empfindungen von Trauer um seine verstorbene Mutter, Scham für den Hass gegenüber seinem eigentlich unschuldigen Vater und dem Verlangen nach Claire, doch wirklich deutlich wird auch hier nur der erneute Verlust der Macht über das eigene Selbst.

Metaphorisch untermalt wird diese Ambivalenz durch das Bild des Kampfes von Licht und Dunkelheit. Die Erzählung beginnt an einem kurzen Morgen, schildert dann einen beinahe noch kürzeren Nachmittag und endet schließlich in langer, finsterer Nacht, die trotz der Lichter der Stadt immer präsent bleibt. Dunkelheit ist dabei durchweg unvermeidbar negativ konnotiert und verbunden mit Kontrollverlust sowohl über Emotionen als auch über Handlung.
Die Einsamkeit, die ebenso allumfassend zu sein scheint wie die Erinnerung, wird zur von der Lyrikerin und Dramatikerin Sylvia Plath beschriebenen »Glasglocke«2Plath, Sylvia: Die Glasglocke, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005.,die sich über Marxley legt und ihn vom Rest der Welt, die er detailversessen beobachtet, trennt. Er kann nicht mehr teilhaben und beschreibt schließlich, es sei die schlimmste Art von Einsamkeit, alle Menschen in einem überfüllten Raum miteinander aber nie mit ihm reden zu hören. Geschickt gelingt es Williams in diesem Zusammenhang, die Menschen im Umfeld des Protagonisten als Objekte, eingeordnet in Kategorien und Schubladen und nicht mehr als eigenständig denkende Individuen, darzustellen. Es ist Marxleys Versuch des Ordnens, doch durch diesen selbst geschaffenen Filter der Wahrnehmung und die nicht enden wollende Kategorisierung nimmt er selbst sich die Möglichkeit zur Flucht aus der Einsamkeitsspirale. Obwohl er die durch den Tod der Mutter ausgelöste Lebensmüdigkeit empfindet, so will er doch am Leben teilhaben und indirekt sehnt er sich verzweifelt nach menschlicher Nähe und Wärme. Will man Marxleys wahren Empfindungen auf die Spur kommen, so ist man gezwungen, fortwährend zwischen den Zeilen zu lesen, denn an Marxleys psychischer Oberfläche stößt man zunächst einzig und allein auf eine − wenn auch breit gefächerte − Ablehnungshaltung gegenüber der Welt und vor allem gegenüber sich selbst. Diese Verleugnung der Sehnsucht, die in der indirekten Sprache Ausdruck findet, macht die Novelle auch psychologisch so interessant.
Williams Novelle ist letztlich die Schilderung eines immerwährenden Konflikts zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Depression und Lebenswillen sowie zwischen Licht und Dunkelheit, an dessen Ende nichts als die Nacht bleibt.

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