Die schönste Version sein

Am Freitag den 21. März 2025 beendet Ruth-Maria Thomas die Lesereise zu ihrem Debütroman Die schönste Version im Literaturhaus in Göttingen und eröffnet zusammen mit dem zeitgleich in der Sheddachhalle stattfindenden Science Slam die Göttinger Frühjahrslese. Die Veranstaltung ist schon länger ausverkauft und das Literaturhaus bis in die letzte Ecke mit Stühlen vollgestellt.

Hinweis: Der folgende Text beinhaltet die Beschreibung von (sexualisierter) Gewalt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du sie in Göttingen hier: Frauennotruf.

Von Lisa Hoffmeister

Bild: Lisa Hoffmeister

Im Intro durch Gesa Husemann wird der Abend als erstes Treffen zwischen den beiden Autorinnen Ruth-Maria Thomas und Sophia Fritz vorgestellt. Während andere Leute beim Kennenlernen erstmal nur an der Oberfläche kratzen würden, werden hier gleich zu Beginn die Fallstricke ›toxischer‹ Verhaltensweisen und häusliche Gewalt thematisiert. Die Autorin Fritz stellt Thomas und ihren Roman Die schönste Version dem Publikum vor. Im Gespräch zwischen den beiden Autorinnen kommt heraus, dass das Schreiben an dem Roman zunächst nur ein Ausgleich zu Thomas’ Arbeit als Sozialarbeiterin war und es umso überraschender war, dass es der Roman sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Der Roman beginnt mit dem großen Knall – einem heftigen Streit zwischen der Protagonistin Jella und ihrem Freund Yannick, in dessen Verlauf er handgreiflich wird. Jella wehrt sich ebenfalls, doch in erster Linie, um sich zu verteidigen. In Rückblenden erzählt Jella von Gewalterfahrungen ohne Zeug:innen seit ihrer Jugend, die nur in Jella widerhallen, die Geschichte der Beziehung vom Kennenlernen bis zum großen Knall, von Freundschaften in ihrer Jugend und vom Erwachsenwerden mit den Erwartungen, die die Gesellschaft an Mädchen und Frauen stellt.

Das richtige Setting finden

Thomas liest eine erste Stelle aus dem Roman vor: Jella und Yannicks zweites Date an einem Badesee, bei dem Jella bereits versucht die schönste Version für Yannick zu sein und seinen Blick von außen bei ihren Entscheidungen mitdenkt. Die Autorinnen Fritz und Thomas reden darüber, wie sich die Figur Jella eigene Räume schafft, obwohl sie sich häufig dem männlichen Blick unterwirft, und warum die Anzahl der bisherigen Sexualkontakte bei Frauen meist anders, nämlich negativ, ausgelegt wird als bei Männern.

Wahnsinnig lebendig und gut intoniert wird die Szene nach dem Zusammenziehen von Jella und Yannick vorgelesen. Zur Entstehung der Figur Jella erklärt Thomas: Am Anfang seien es hauptsächlich Kurzgeschichten (erstes Date, erster Kuss) gewesen, die dann einen größeren Rahmen brauchten. Ruth hat nach einem Setting gesucht, das Jella erlaubt, ihre eigene Jugend zu reflektieren. Dazu gehören schwere Fragen, z.B.:Wie geht es weiter, wenn das man das eigene Leben nicht mehr leben kann, wenn man auf der Straße steht mit einer Fremden nach einem Übergriff des Partners und nicht mehr nach Hause kann? Genau darum geht es in Die schönste Version. Wie erzählt man so eine Geschichte? Wie muss die Hauptfigur sein, damit das funktioniert? Die Figur Jella solle »ich« sagen und ihre Eigene Stimme in all dem Chaos finden – deshalb gebe es keine Erzählinstanz mit Außenperspektive. Der Text hat auch Leerstellen, aber keine zu großen, denn die Geschichte müsse erzählt werden, alles müsse ausgesprochen werden. Und Thomas wolle durch Zeigen erklären und nicht nur durch Benennen. Die Autorin Thomas erzählt, sie habe selber viele Verhaltensweisen internalisiert, die ihr in verschiedenen Kontexten vorschreiben, wie sie sich als Frau verhalten sollte.

Fehlende Vorbilder – na Bravo!

Jella und ihre beste Jugendfreundin Shelly hatten keine richtigen Vorbilder für das Führen einer romantischen Beziehung. Für Thomas ist die Verbindung von Jella und Shelly die große Liebesgeschichte im Buch. Die Frauen im Buch erziehen sich gegenseitig und befinden sich gleichzeitig in einem Konkurrenzkampf darum, die Beliebteste zu sein. Jella zieht Kraft aus der Liebe der Freundschaft und der Me-time auf einem Paris-Trip, sodass sie sich von Yannick lösen kann. Im Gespräch betont Thomas, dass gesunde erwachsene Vorbilder so wichtig für junge Frauen seien, doch Jella und Shelly hätten nur die Bravo und Britney Spears gehabt. Man könne bedauern, dass der Vater von Jella nach der Trennung der Mutter keine Therapie gemacht hat, aber – Thomas betont – sie schreibe ja auch keine Utopie. Trotzdem gibt er sein bestes für seine Tochter, als diese nach dem Übergriff wieder bei ihm in ihrem alten Kinderzimmer unterkommt.

Ruth-Maria Thomas
Die schönste Version
Rowohlt: 2024
272 Seiten, 24 €

Gegen Ende der Veranstaltung wird Thomas emotional bei der Vorstellung, dass bei Geschichten, die dringend erzählt werden müssten, häufig Leerstellen bleiben. Auch der Gedanke, dass ihre Lesereise nun vorbei ist, macht sie sichtlich traurig. Nach einem letzten großen Applaus wird der Vaternahm-Büchertisch vom Publikum komplett ausverkauft und den Literaturhausmitarbeiterinnen zufolge bildet sich die längste Schlange am Autogramm-Tisch, die es im Literaturhaus jemals gab.

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