Die Schöne ist das Biest?

These, Antithese, Synthese – so schaut Hegels dialektischer Dreischritt aus. In der Debatte über Takis Würgers Stella gab es auf Litlog zunächst eine Pro- und eine Kontraposition. Nun nehmen die beiden Autoren eine Podiumsdiskussion zum Anlass, um gemeinsam Peter Wydens Stella-Biografie zu beäugen.

Von Stefan Walfort und Nikolai Wittenstein

Bild: Mit freundl. Genehmigung d. Literarischen Zentrums

Käuen wir gerade die Kontroversen der 90er Jahre wieder? Wer am 03. Mai der Einladung des Literarischen Zentrums zur Podiumsdiskussion Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte ins Alte Rathaus folgte, sah sich jedenfalls mit diesem Eindruck konfrontiert: Anat Feinberg, Literaturwissenschaftlerin und Judaistin an der Universität Heidelberg, verwies in ihrem Eingangsbeitrag auf den prägenden Shoah-Diskurs dieser Zeit: In den 90ern hatte das Interesse an jüdischer Literatur zur Shoah »Hochkonjunktur«. Neben einflussreichen Lebensrückblicken, etwa Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend oder Marcel Reich-Ranickis Mein Leben, polarisierte der Blockbuster Schindlers Liste. Im Jahr 1993 erschien erstmals auch Peter Wydens Stella-Biografie, die vom Leben einer Berliner Jüdin erzählt, in die Wyden sich als ihr Mitschüler verliebte. Schon damals hatte ihre Lebensgeschichte es in sich, zumal sie mit der Gestapo paktiert und im Untergrund lebende Mitmenschen verraten hatte.

Doch im Jahrzehnt der auflebenden Erinnerungskultur erfuhr das Buch nicht die Aufmerksamkeit, die ihm nun – als Grundlage des heißdiskutierten gleichnamigen Romans von Takis Würger – zuteilwird. Der Göttinger Steidl-Verlag reagierte auf das nun aufflammende Interesse mit einer Neuauflage von Wydens Buch, ergänzt um den Nachnamen Goldschlag und den Untertitel Eine wahre Geschichte. Zudem gibt es ein Vorwort Christoph Heubners, dem Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Er bescheinigt Wyden, von »keinem Voyeurismus, keiner Sensationslust, keiner Gier nach öffentlicher Aufmerksamkeit« angetrieben zu sein. »Peter Wyden verurteilt nicht«, so lautet Heubners Resümee, dem sich die Diskutant*innen im Alten Rathaus vorbehaltlos anschlossen.

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Takis Würger
Stella

Carl Hanser Verlag: München 2019
224 Seiten, 22,00€   

»Malerische« Poesie versus »Literaturbetriebsunfall«?

Erzählt nun aber Wyden die Wahrheit über Stella Goldschlag, sofern es so etwas wie Wahrheit überhaupt gibt? Neben Feinberg saßen auf dem Podium Christoph Schröder, Literaturkritiker, der regelmäßig unter anderem für Die Zeit schreibt, und Torsten Hoffmann, Literaturprofessur an der Universität Stuttgart, der das Gespräch moderierte. Zwischendurch las Florian Eppinger, vielen im Publikum als Schauspieler des Deutschen Theaters Göttingen bekannt, Passagen aus Wydens Biografie. Für den als »meinungsstark« angekündigten Kommentator Schröder ist Würger, dessen Person und Roman einfach nicht aus dem Spotlight der Diskussion verschwinden wollten, ein Autor, der »einen Deppen zum Erzähler macht« und einen historischen Stoff zu einer »Nazischnurre mit Fertigfiguren«.

Florian Eppinger liest aus Peter Wydens Biografie

Während Hoffmann sich redlich bemühte, Würgers Stella etwas Positives abzugewinnen, sah Feinberg schlichtweg nichts, was Stella lesenswert mache. Im Gegenteil: Vielfach eingestreute Klischees fern der Realitäten tatsächlicher jüdischer Alltagspraxis machten aus ihrer Sicht den Roman »schrecklich banal«. Feinberg fragte sich daher, was Leser*innen an Stella bloß fänden. Das nahm ein Publikumsgast im späteren Frageteil zum Anlass, sich zu empören: Er, der sich selbst als »Takis Würger-Fan« outete, fühle sich durch »süffisant« urteilende Literaturkritik in eine Ecke gedrängt, in der er sich selbst nicht sehe. Feinberg zeigte sich erfreut, dass Stella wohl immerhin das Interesse junger Menschen an der Shoah fördere, und Schröder versicherte, durch seine Rezensionen natürlich niemanden persönlich kränken zu wollen.

Doch im eigentlichen Fokus des Abends sollte Wydens Biografie stehen. Diese lobten Feinberg, Schröder und Hoffmann nahezu einhellig. Feinberg meinte gar, »die Sprache eines Malers« erkennen zu können. Das liegt sicher am unmittelbaren Vergleich mit Würgers Roman: Wer wie er den eigentlich vielschichtigen Stoff mit am Film orientierten Schreibverfahren aufbereite, nehme laut vieler Verrisse eine Verflachung in Kauf. Doch die Wyden-Biografie mit dem Würger-Roman allein nach ästhetischen Merkmalen zu kontrastieren, wie es Feinberg an dem Diskussionsabend präferierte, blendet aus, was schon in den 90ern die entscheidende Frage war und aus Schröders Sicht auch bei der Stella-Debatte eine Rolle spielt: Wer darf wie von der Shoah erzählen?

Während Feinberg generell nicht über ethische Dimensionen geschichtlichen Erzählens sprechen wollte, äußerte sich Schröder dazu widersprüchlich: Hatten einige Buchhändler*innen der Würger-Kritik unterstellt, sie wolle exklusiv bestimmen, »wie über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben werden darf«, so hielt Schröder solcherlei Vorwürfe einerseits für »elitenfeindlich«. Selbstverständlich gelte: »Man darf alles«. Andererseits seien eine penetrante verlegerische Publicity und selbstinszenatorische Auftritte des Autors Anlass genug, um Würgers schriftstellerischen Umgang mit der NS-Zeit als »Literaturbetriebsunfall« zu bewerten. Daraus leitete Schröder beschränkte »Zugriffsrechte« auf die Leidensgeschichte Goldschlags ab. Demnach darf also niemand tatsächlich alles, sondern es kommt Schröder auf bestimmte erzählerische Fähigkeiten an.

Was Wydens Biografie leistet

Wer warum genau welches Erzählrecht besitzt, blieb jedoch ungeklärt. Ein Kriterium könnte eine von Feinberg hervorgehobene Kontextualisierung sein, von der Wyden deutlich umfassender Gebrauch macht als Würger mit seinem elliptischen Collagenstil: Während letzterer Ereignisse der 30er Jahre weitestgehend unkommentiert aneinanderreiht, zeichnet Wyden ein Panorama, das von Detailtreue geprägt ist – von einem differenzierten Blick, von einer Vielfalt an Ambivalenzen, deren Last das Handeln alles anderer als homogener Opfermilieus bestimmte.

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Peter Wyden
Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte

Steidl Verlag: Göttingen 2019
384 Seiten, 20,00€

So schildert er eindrücklich, wie Fragen danach, ob eine Flucht überhaupt zu erwägen ist, für viele eigentlich Ausreisewillige durch diverse Faktoren zu einer Crux wurden. Einer weisen Voraussicht von Wydens Mutter sei es zu verdanken gewesen, dass er rechtzeitig in die USA entkam. Die Hoffnungen anderer wie die der Goldschlags seien zerbrochen wegen der »Quoten«, mit denen potenzielle Aufnahmestaaten die Emigration regulierten, wegen Visa und »Affidavits« (gemeint ist eine Bürgschaft mindestens eines Verwandten, der vor Ort für ein Wohlverhalten der Aufgenommenen einstehen musste), die vorzuzeigen waren. Als besonders perfide erlebte Wyden, dass die Nazis auch noch eine »Reichsfluchtsteuer« zu erpressen versuchten: »Juden wurden unter Druck gesetzt, damit sie das Land verließen, aber das Privileg der Ausreise war teuer«. Manche hätten sich daher entschieden, doch in Berlin zu bleiben. Ganz so schlimm würde es schon nicht kommen.

»Man braucht eine stabile innere Sicherheit, um den Planwagen anzuspannen«, gibt Wyden zu bedenken. Dieser Hintergrund, von dem Würger in seinem Roman vieles ausspart, und die Folter, mit der die Gestapo jüdische Hilfskräfte gefügig machte, sind immer zu bedenken, wenn es darum geht, über Goldschlags Kollaboration den Stab zu brechen. Und in der Tat leistet Wydens Biografie viel, um Goldschlags Taten wenigstens ansatzweise zu begreifen. Dennoch ist das Buch keineswegs, wie Heubner und mit ihm Feinberg, Schröder und Müller es nahelegen, frei von wertender Interpretation: Wenn der Titel einer der 29 Kapitelüberschriften – auf Goldschlag referierend – Blut geleckt lautet, schwingen unmittelbar pejorative Konnotationen mit. Wenn Wyden konstatiert, dass Goldschlag »eine Schwäche für Macht« gehabt habe und »absolut entschlossen zu überleben« gewesen sei, lässt einen das mit der Frage zurück, wem es im Angesicht von Folter und Todesdrohungen anders ergehen würde. An Stellen wie diesen lässt einen der Eindruck nicht los, Wyden mache sich zumindest temporär mit Stimmen gemein, die in Goldschlag vor allem ein Biest erblicken.

Stellas Frausein erklärt alles?

Hinzu kommen Passagen, in denen Wyden aus antisemitischen Aussagen Goldschlags, nachgeplappert im Kindesalter, regelrecht eine schicksalhafte Vorherbestimmung ableitet: Schon »die Lehrer behielten Stella immer im Auge und waren auf der Hut vor Unannehmlichkeiten«, so raunt er, als wäre schon damals Goldschlags Pakt mit den Henkern unausweichlich gewesen. Das wird vor allem dem gewählten Medium geschuldet sein; zu den Eigenarten der Biografie als Gattung gehört es traditionell, unreflektiert teleologische Prämissen zu reproduzieren. Kritik daran wäre allemal angebracht. Doch stattdessen schienen sich besonders die Männer auf dem Podium in einer Sache überaus einig zu sein: Das eigentliche »Mysterium« an der ganzen Sache sei die Hauptfigur – Stella Goldschlag, »eine Art Blackbox«.

Wyden führe Goldschlag als unfassbar schönes »Traumbild«, als »verführerische Blondine« vor. Hoffmann und Schröder zeigten sich reichlich fasziniert, womit sie Würger viel ähnlicher waren, als ihnen lieb sein mochte. Dass Würger den Stoff zu einer »krassen Geschichte« modelliere, kritisierte Schröder zwar emphatisch. Doch er sinnierte auch eigens im Duktus beider Autoren, Wyden wie Würger, über eine »Aura des Anziehenden« und eine »abstoßende« Boshaftigkeit, die Goldschlag zugleich charakterisierten. Zurück blieb an diesem Abend vor allem das grelle Bild einer wunderschönen und zugleich bösen, durchtriebenen Femme fatale.

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