Die Risse einer Kindheit

Die Kaschnitz-Preisträgerin Angelika Klüssendorf ist mit ihrem Roman Risse erneut, wie schon 2014, für den Deutschen Buchpreis nominiert worden. In Risse erzählen zehn in sich geschlossene und mit einem Autorinnenkommentar verbundene Abschnitte von einem Mädchen, das in der DDR unter schwierigen Umständen aufwächst. Als Leser:in wird man in Situationen geworfen, denen man sich schnellstmöglich wieder entziehen möchte.

Von Cecilia Hesse

Bild: via Pixabay, CC0

Eine Kindheit geprägt von Ungeborgenheit und Gewalt

Der 2023 im PIPER-Verlag erschienene Roman Risse beschreibt in Bruchstücken Erlebnisse eines Mädchens von der Kindheit bis hin zur Jugend. Die einzige liebevolle Person in seinem Leben, die Großmutter, verstirbt, weshalb das Mädchen bald ganz den Eltern überlassen ist. Das Familienleben besteht aus heftigen Ehestreitigkeiten, bei denen nicht selten Geschirr zu Bruch geht und bei denen die restlichen Familienangehörigen verängstigt zurückbleiben. Diese Zeit ist jedoch bald durch die Scheidung der Eltern vorbei.

Das Mädchen wächst in ständiger Unterdrückung von Seiten ihrer Eltern auf, muss früh Verantwortung für sich, ihre kleine Schwester und die Eltern übernehmen. Sie wird von den alkoholkranken Eltern zur leibeigenen Dienstbotin gemacht: Tabletten und Alkohol kaufen, der Mutter den Rücken kraulen, wenn ihr danach ist und die kleine Schwester großziehen. Tut sie dies nicht, geht es von der psychischen Gewalt in die physische über, bis die Mutter wieder das Gefühl hat, ihre Macht zurückerlangt zu haben und sich überlegen fühlt. Dem Verhalten der Mutter kann das Mädchen auch nicht entkommen, indem der Mutter das Sorgerecht entzogen wird und sie daraufhin zum Vater zieht, denn dieser ist nicht besser. Sie muss in seiner Tagesgaststätte in der Küche stehen und Fisch für das Mittagessen entschuppen, ›darf‹ mit dem Hund raus und muss seine Launen aushalten. Ihre Tage und Kindheit sind »dehnbar wie Kaugummi« – sie ziehen sich hin und nehmen kein Ende.

Keine Mutter aus dem Bilderbuch

»Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der meine Mutter glücklich gewesen war; sie war keine Frau, die Unglück ertragen oder gar mit sich ausmachen konnte. Sie musste es weitergeben.«

Die Mutter in Klüssendorfs Roman ist wohl einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Protagonistin mit Rissen in ihrer Kindheit leben und lernen muss, mit diesen umzugehen. Eine Mutter, die es nicht schafft, den Weihnachtsbaum an Heiligabend aufzustellen, geschweige denn zu schmücken. Eine Mutter, die mit dem ersten Freund der eigenen Tochter schläft. Eine Mutter, die ihre jüngste Tochter mitten in der Nacht aufweckt, um sie mit Nadeln zu verletzen, weil sie sie beschuldigt, fünfzig Pfennig aus ihrem Portemonnaie gestohlen zu haben. Sie tritt dem Mädchen das erste Mal mit Bewunderung und Stolz gegenüber, als es beim Klauen erwischt worden ist. Auf einmal könnte ihre sonst so unnütze Tochter zu etwas gut sein und den wöchentlichen Einkauf auch ohne das eigentlich benötigte Geld erledigen. In Risse wird die Realität einer zerrütteten Familie vor Augen geführt, die für das Mädchen nicht einfach zu durchleben ist.

Klüssendorfs Risse als autofiktionaler Roman?

Angelika Klüssendorf
Risse

Piper: München 2023
176 Seiten, 22,00 €

Klüssendorf verwebt in Risse zehn verschiedene Geschichten miteinander, indem sie jedes Kapitelende mit einem kursivgedruckten erklärenden Kommentar versieht. Diese Kommentare dienen als reflektierende Autorinnenstimme, durch die offengelegt wird, dass sich die im Roman geschilderten Situationen zum Teil wirklich so in der Kindheit der Autorin zugetragen haben. Mit diesem Kunstgriff macht Klüssendorf die Autofiktionalität des Romans erkennbar und deckt Parallelen zum eigenen Leben auf. Für die Leser:innen dient dies als verknüpfendes Element und erleichtert es, dem Geschehen der Geschichte zu folgen.

Keine leichte Lektüre

Die knapp 170 Seiten von Risse nehmen die Leser:innen mit in die Abgründe einer Familie in der DDR und verschonen sie nicht mit intensiven Beschreibungen von psychischer Gewalt an einem Mädchen, die dieses so weit treibt, sich das Abhauen von zuhause als einzigen Ausweg vorzustellen. Geschrieben ist der Roman eher in einer nüchternen, kühlen und emotional nicht überladenen Sprache, sodass man es aushalten kann, sich auf das Schicksal des Mädchens einzulassen und sich trotzdem automatisch großes Mitgefühl einstellt. Zwar geht es in allen Kapiteln um das Mädchen und meist wird auch aus seiner Sicht geschrieben, doch ab und zu wechselt die Erzählperspektive. Mal erzählt ein alter Freund, mal eine Praktikantin aus einem Kinderheim, die das Mädchen für eine Zeit lang betreut. Dadurch wirkt der Roman besonders dynamisch. Nachdem man verstanden hat, wozu der oben beschriebene, zwischengeschobenen Kommentar dient und man den Bezug zur Kindheit der Autorin herstellen konnte, kommt man schnell in einen Lesefluss. Die geschilderten Situationen schockieren, doch führen dazu, dass man das Buch ungern aus der Hand legt und weiterlesen möchte. Mit der schonungslosen Beschreibung psychischer Gewalt schafft es Angelika Klüssendorf, tiefgehende Risse in einer Kindheit offenzulegen und ermöglicht einen Blick in die Abgründe einer zutiefst dysfunktionalen Familie.

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